Am 2. Mai 2014 wurden im Gewerkschaftshaus in Odessa in der Ukraine mehr als 50 „Antimaidan“-Aktivisten von Mitgliedern des extremistischen „Rechten Sektors“ und Fußball-„Ultras“ ermordet. Der Journalist und Verleger Frank Schumann war zum vierten Jahrestag der Tragödie in Odessa und sah eine verunsicherte Bevölkerung und einen starken rechten Mob.

Von Armin Siebert
Herr Schumann, Sie waren vergangene Woche zum vierten Jahrestag des Massakers im Gewerkschaftshaus in Odessa. Was haben Sie erlebt?
Erst war ich am 1. Mai auf der Maikundgebung. Da waren nur fünfzig Leute, was ich schon bezeichnend fand. Es gab keine Lieder, keine Transparente, weil es Auflagen gab, dass es keinerlei politischen Bezug geben darf. Dann waren da noch sechs junge Leute, die ständig Sprüche skandierten wie „Slava Ukraini“ oder „Tod den Russen“ und dort reinblökten und ihre Helden wie Stepan Bandera hochleben ließen. Und dieselben Leute sah ich dann am 2. Mai auch wieder auf dem Kulikowo Pole, dem Platz, wo das Gewerkschaftshaus steht. Der Platz war weiträumig abgesperrt, alle fünf Meter stand ein Polizist. Es waren etwa 2000 Leute zum Trauern und Gedenken da. Es waren neben den sechs Provokateuren vom Vortage noch mehr Nazis da. Die gaben dann Interviews an die Medien und erzählten, das wäre für sie heute kein Tag der Trauer, sondern ein Tag des Sieges. Vor vier Jahren wären „Kartoffelkäfer“ verbrannt worden („Kolorady“ – abwertende Bezeichnung für prorussische Aktivisten, Anm. d. Red), das sei doch ein Grund zum Feiern.
Drei Stunden später fand dann der „Marsch der ukrainischen Ordnung zum vierten Jahrestages des Sieges von Odessa“ durch die Innenstadt statt. Das war auch überall plakatiert. Die Teilnehmer traten ziemlich martialisch auf. Es wurde laute Musik gespielt. Und hier durften auch Fahnen geschwenkt werden. Es gab keine Gegenproteste. Als ich Leute am Rand fragte, wie sie das finden, meinten sie nur, sie haben weder was mit Poroschenko noch mit Putin am Hut und wollen nur in Ruhe gelassen werden. Die Naivität der normalen Bevölkerung im Umgang hiermit ist schon erschreckend.
Sie sagen, die Menschen wollen mit Politik nichts zu tun haben. Wie ist denn allgemein die Stimmung in Odessa?
Wenn man dort den Fernseher einschaltet, sieht man ständig patriotische Reden, und es wird vom russischen Aggressor berichtet. Poroschenko ruft ständig zum letzten Gefecht auf. Aktuell wurde im Fernsehen gefeiert, dass die Amerikaner ihnen 103 Panzerabwehrlenkraketen liefern, die sie auch noch für 750 Millionen bezahlen dürfen. Der Ton ist aggressiv. Es geht nur noch um Machtsicherung. Poroschenko selbst genießt überhaupt kein Ansehen mehr im Lande. Der ist unten durch.
Woher rührt Ihr persönliches Interesse an diesem Thema?
Die Ukraine interessiert mich schon lange. Vor sechs Jahren habe ich die Ukraine bereist für ein Buch über Julia Timoschenko. Und so habe ich mit einer gewissen Verwunderung, um es mal vorsichtig zu formulieren, die Art des Machtwechsels dort 2014 beobachtet und sehe, dass sich die Lage politisch dramatisch verändert hat. Inzwischen ist die Ukraine ein Polizeistaat. Und die soziale Zerklüftung der Gesellschaft in der Ukraine ist dramatisch. Ich habe selten so viele Bettler und Betrunkene in einer Stadt gesehen wie in Odessa. Und dann gibt es schnell hochgezogene Hochhäuser, die als Eigentumswohnungen mit Quadratmeterpreisen von 2000 Dollar verkauft werden.
Auf der anderen Seite gibt es kaum noch Touristen. Auf dem Flugplatz kommen täglich nur 15 Flugzeuge an – früher waren es 50, vorwiegend aus Russland. Auch in den Hotels und in der Gastronomie klagen sie über das Wegbleiben der russischen Touristen.
Kommen wir zurück zum Marsch der Rechten durch Odessa. Wie war da die Stimmung?
Ich fand die Reden, die auf diesem Marsch gehalten wurden, bemerkenswert. Auf dem Lautsprecherwagen, wo diese ganzen Nazihäuptlinge ihre Reden hielten, stand neben dem Hauptredner, Oleh Tjahnybok, dem Chef von Swoboda (eine ukrainische rechtsradikale und radikal-nationalistische Partei, Anm. d. Red.), die diese Veranstaltung im Wesentlichen organisiert hatten, eine unscheinbare junge Frau. Wie ich dann mitkriegte, ist das die Chefin des Rechten Sektors (rechtsextreme ukrainische politische Organisation, Anm. d. Red.) von Odessa – Tatyana Soikina. Und sie hat dann in ihrer Rede folgenden Satz gesagt: „Wir sind überzeugt, dass wir in Odessa für Ordnung sorgen, so wie wir in der Ukraine eine richtige ukrainische Ordnung einführen werden. Die Ukraine wird den Ukrainern gehören und nicht den Juden und den Oligarchen. Es lebe die Ukraine!“ Der ukrainische Innenminister Arsen Awakow twitterte dann zwar gleich, dass antisemitische Äußerungen in der Ukraine nicht erlaubt sind. Aber ich glaube nicht, dass das irgendwelche Konsequenzen haben wird.
Was wissen Sie zur juristischen Aufarbeitung der Tragödie von Odessa? Bewegt sich da noch was?
Überhaupt nichts. Es ist nichts passiert. Damals wurden 180 Aktivisten vom Antimaidan, die ja die Opfer waren und verprügelt wurden, verhaftet und haben eine gewisse Zeit gesessen, ohne dass es eine Verhandlung gab. Und zwei von ihnen sitzen immer noch ohne Anklage in Haft. Das hat nichts mit Rechtsstaat zu tun. Die Täter und die Hintermänner wurden bis heute nicht aufgeklärt.
In den westlichen Medien wird über dieses Thema nicht berichtet. Warum?
Das hängt, glaub ich, auch mit der Eindeutigkeit der Lage zusammen, die aber juristisch nicht aufgeklärt wurde. Es war eine Reaktion Kiews. Wir wissen, der Staatsstreich fand im Februar statt. In Odessa gab es zwei Monate danach immer noch Antimaidan-Proteste mit täglich über tausend Leuten in diesem Camp vor dem Gewerkschaftshaus. Das sollte liquidiert werden. Ein Teil dieser Schläger wurde in Kiew in Marsch gesetzt, die haben sich dann vor Ort unter die Fußball-Hooligans gemischt. Dann kam es zu diesem Massenmord, der bis heute nicht aufgeklärt ist. Und da schweigt man im Westen lieber drüber, damit man die Verantwortlichen für diesen Massenmord nicht benennen muss. Diese Art von Ignoranz ist, denke ich, auch politisch motiviert.
Am 2. Mai 2014 hatte eine Aktion von „Antimaidan“-Aktivisten in Odessa in einer Tragödie geendet, als Mitglieder des extremistischen „Rechten Sektors“ und Fußball-„Ultras“ gegen die Aktionsteilnehmer vorgingen. Dutzende „Antimaidan“-Teilnehmer kamen bei einem Brand in einem Gewerkschaftshaus, in dem sie Schutz gesucht hatten, ums Leben. Nach offiziellen Angaben waren dabei rund 50 Menschen getötet und mehr als 200 verletzt worden.
Das Interview mit Frank Schumann zum Nachhören: