In den vergangenen Tagen haben hochrangige europäische Beamten sich mehrfach zum Thema Europaarmee geäußert. Die Hauptbotschaft lautete unisono: Europa muss bereit sein, sich selbst zu verteidigen, ohne auf die USA zu zählen – und das soll möglichst schnell geschehen, schreibt der russische Politologe Geworg Mirsajan in einem Beitrag für Sputnik.
Die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini hatte auf einer Konferenz in Florenz am Freitag mitgeteilt, dass sich die Welt in einem Chaos befinde und Europa eine Berufsarmee brauche. Am Tag darauf hieß es im Podcast der Bundeskanzlerin Angela Merkel, dass die EU bereits riesige Fortschritte bei der Militärkooperation erreicht habe.
Das Konzept zum Aufbau einer europäischen Armee besteht bereits seit den 1950er Jahren. Die gemeinsame Verteidigungspolitik ist im Lissabon-Vertrag festgeschrieben. Doch noch Jahrzehnte haben diese Pläne de facto nur auf dem Papier existiert – bei einer lebendigen und handlungsfähigen Nato und der unbestrittenen US-Hegemonie.
Nach dem Machtantritt Donald Trumps änderte sich die Situation schnell. Bereits im November 2017 verabschiedete die gesamte EU (außer Großbritannien, Dänemark und Malta wegen seines neutralen Status) eine Roadmap für die Sicherheitskooperation Pesco (Permanent Structured Cooperation). Das Projekt sieht eine umfassende Kooperation zwischen den Ländern im Militärbereich vor, darunter die Unifizierung und Harmonisierung der Verteidigungsstrategien, die Bereitstellung von Militäreinheiten für Sonderoperationen und die Bereitschaft für gemeinsame Missionen. Zudem setzen einzelne Gruppen der Mitgliedsstaaten Partnerschaftsprojekte zur Schaffung einer gesamteuropäischen Verteidigungsinfrastruktur um, beispielsweise das Medizinische Kommando (eingerichtet durch Italien, die Niederlande, Rumänien, die Slowakei, Spanien und Schweden unter der Führung Deutschlands) bzw. ein spezielles Krisenzentrum (daran arbeiten Frankreich, Deutschland, Italien, Spanien und Zypern).
Das Thema Europaarmee spielt bei den Auftritten der europäischen Staats- und Regierungschefs keine nebengeordnete Rolle mehr. Die Staats- und Regierungsoberhäupter und hochrangige EU-Beamten sowie EU-Kommissionspräsident Jean Claude-Juncker sprechen davon, dass die Verteidigungssouveränität Europas eine unvermeidliche Angelegenheit sei.
Der Ausstieg der USA aus dem Atom-Deal mit dem Iran fördert diesen Prozess. Wie der ehemalige deutsche Außenminister Sigmar Gabriel sagte, wird die EU „als einziger Vegetarier in der Welt der Fleischfresser“ nicht funktionieren.
Im Ergebnis wird bereits direkt gesagt, dass sich Europa bei Sicherheitsfragen nicht mehr auf die USA verlassen kann. Kanzlerin Merkel verweist darauf, dass am Rande Europas zahlreiche Konflikte zu erkennen seien, die die Sicherheit der Union bedrohen. Dabei gehe es um unmittelbare Bedrohungen – die USA hätten bereits ihre Unfähigkeit gezeigt, die eigenen Verbündeten vor ihnen zu schützen.
Man darf in diesem Zusammenhang nicht vergessen, dass es gerade die Europäer waren, die unter den US-Erfolgen im Nahen Osten zu leiden haben – sie mussten den Flüchtlingsansturm aus Syrien und Libyen bewältigen. Europa wurde auch von den blutigsten Terrorattacken des Islamischen Staates (IS)* in diesem Jahrzehnt erschüttert. Zur Erinnerung: Der IS war nach der siegreichen Irak-Invasion der USA entstanden.
Ferner gibt es noch die im Chaos befindliche Ukraine, die weniger prowestliche Türkei und den palästinensisch-israelischen und iranisch-israelischen Konflikt – an der Zuspitzung an all diesen Orten sind die USA unmittelbar beteiligt.
Die Amerikaner sind aus verständlichen Gründen nicht darüber erfreut, dass die Europäer nun Kurs auf eine Verteidigungsunabhängigkeit nehmen. Aus Washington sind Warnungen an die europäischen Partner zu hören, die Sicherheit nicht zu zerstückeln. Als Antwort darauf wurde in Brüssel bekräftigt, dass die Pesco die Nato nicht ersetze, sondern sich auf das gemeinsame Reagieren auf lokale Krisen konzentriere, wobei der strategische Schutz Europas der Nato überlassen werde. Allerdings zweifeln die Amerikaner trotzdem daran. Laut Katie Wheelbarger, einer Assistentin des US-Verteidigungsministers James Mattis, werden die USA das europäische Verteidigungsprojekt unterstützen, solange es nicht die Nato schwächen wird. Zudem gefalle es Washington nicht, dass Pesco zur Protektionsmaschine der EU werde, so die US-Botschafterin bei der Nato, Kay Bailey Hutchison. Denn der gemeinsame europäische Verteidigungsbau werde zum Rückgang der Lieferungen von US-Waffen an Europa führen – das heißt, auch zu Verlusten bei Waffenfirmen der USA.
Mehrere wichtige Verteidigungsfragen sind bislang ungeklärt. So strebt Deutschland eine aktive Beteiligung möglichst vieler Mitgliedsstaaten am Aufbau der Verteidigung an. Doch einige EU-Länder sind zur Verteidigungsintegration einfach nicht bereit und werden sie de facto sabotieren. Die Rede ist vor allem von osteuropäischen Ländern, die zwar einen bedeutenden Teil der Mittel aus gemeinsamen Fonds bekommen, sich politisch aber strikt nach den USA richten. Zum Beispiel Polen, das direkt sowohl mit Brüssel als auch mit Berlin auf Konfrontationskurs geht.
Zudem muss Europa moralisch dazu bereit sein, Militäroperationen ohne die Teilnahme der USA durchzuführen. Ja, die Franzosen haben damit mehr oder weniger Erfolg (Operation in Mali), doch ihre Handlungen finden nicht entgegen der Interessen der USA, sondern eher nach Absprache mit ihnen statt.
Allerdings liegt die Tendenz auf der Hand: Wenn der Prozess abgeschlossen wird, werden die größten Verlierer die Staaten sein, die sich auf die US-Weltordnung verlassen haben — also proamerikanische Osteuropäer wie Polen und postsowjetische Republiken, die unter den Nato-Schutzschirm gelangen wollen, wie Georgien und die Ukraine.
Doch zu dem Zeitpunkt, an dem sie unter diesen Schutzschirm theoretisch gelangen, kann er sich einfach schließen.
* Islamischer Staat (IS, auch Daesh), eine in Russland verbotene Terrorvereinigung