Die Chefin des Internationalen Währungsfonds (IWF) Christine Lagarde hat auf dem Internationalen Wirtschaftsforum in St. Petersburg (SPIEF) aufgerufen, die Sanktionen gegen natürliche Personen aus Russland zu „überdenken“. Russische Experten haben gegenüber dem Portal „Expert Online“ am Montag erläutert, wie Lagardes Aufruf zu deuten ist.
Bei ihrem Auftritt am Freitag äußerte Lagarde, es sei höchste Zeit, die Sanktionen, darunter auch die Sanktionen gegen natürliche Personen aus Russland, zu überdenken.
Zurzeit sei das Ziel der Sanktionen unklar: Es sei nicht verständlich, ob sie direkt auf natürliche Personen oder auf ihre Unternehmen und Holdings abzielen, betonte sie in einer Plenarsitzung des SPIEF: „Das ist eine tatsächliche Frage des Vertrauens, das es nicht gibt. Und das muss gelöst werden.»
In diesem Sinne seien auch die von den USA verhängten antiiranischen Sanktionen aufschlussreich, sagte die IWF-Chefin: Der „Doppelsinn», der in der Gesetzgebung der USA enthalten sei, habe sich unter anderem auf viele Firmen, die auf dem Petersburger Wirtschaftsforum vertreten seien, negativ ausgewirkt: Selbst wenn die USA und ihre Verbündeten beschlossen hätten, die Sanktionen gegen den Iran aufzuheben, hätten sich viele Unternehmen nicht dafür entschieden, Geschäfte mit diesem Land einzugehen.
„Das juristische System und das System der Rechtsprechung in den USA sind so intransparent — ich meine vor allem die Anpassung an die kommerziellen Interessen der USA — dass niemand Interesse zeigte, obwohl die Sanktionen aufgehoben worden waren», so Lagarde.
Russische Experten deuten Lagardes Appell
Die Äußerung der IWF-Chefin sei für das Wirtschaftsforum in Sankt Petersburg abgegeben worden und bedeute noch keine Aufhebung der Sanktionen, sagte der Abteilungsleiter des russischen Beratungsunternehmens „Internationales Finanzzentrum» Roman Blinow gegenüber „Expert Online». Lagardes Botschaft sei für die USA gemacht, die die europäische Wirtschaft und den Finanzsektor „immer stärker erpressen», betonte er.
Sollten die USA nicht nachgeben, so werde ein „zurzeit ziemlich ungebührlicher Gedanke» ausgesprochen, und zwar die Schließung des Nato-Bündnisses, dessen Ziele recht verschwommen seien, außer dem Absatz der US-Waffen an die „Verbündeten», so der Experte. Zum ersten Mal mache Europa einen solchen Schritt gegenüber Russland beim „Sanktionshandel», da Geschäftsleute und Euroskeptiker die „amorphen» Politiker der Nullerjahre aus ihren Sesseln reißen.
Auch Italien, das den Schuldenerlass und die Aufhebung der Sanktionen gegen Russland gefordert habe, gieße Öl ins Feuer. Einen Schuldenerlass könne die Europäische Zentralbank (EZB) zwar nicht genehmigen, da die darauffolgende Krise sich schon innerhalb eines Monats auf andere Länder auswirken würde, sagte der Analyst. Die Sanktionsfrage werde jedoch ernsthaft behandelt. Wenn Italien seine Stellung in Brüssel durchsetzen werde, dann könnten alle Restriktionen gegen Russland bereits im Herbst aufgehoben sein.
Die Sanktionen hätten außerdem keinen ernsthaften Einfluss auf Russland ausgeübt, während die EU nach Angaben verschiedener Agenturen 40 bis 70 Milliarden Euro verloren habe, betonte Blinow. Europa habe es seit Langem lediglich an einem Anlass gefehlt. Nun sei dieser endlich vorhanden, und russische Produzenten sollten den regionalen und Staatsbeamten erläutern, dass der russische Markt zu einer Öffnung für europäische Waren in den nächsten Jahren noch nicht bereit sei.
Das „pragmatische» Russland werde viel Spielraum für die wirtschaftliche Entwicklung und die Stärkung des politischen Einflusses haben, ist sich der Experte sicher. Konkrete Zahlen könnten jedoch erst nach dem Erhalt von konkreten Vorschlägen behandelt werden.
Die Chefanalystin des Brokerunternehmens „Alpari» Anna Bodrowa bewertete Lagardes Äußerungen auf dem Internationalen Wirtschaftsforum in Sankt Petersburg noch zurückhaltender: Europa und die USA würden der Meinung der IWF-Chefin kaum Gehör schenken, sagte sie.
Die Einstellung von Christine Lagarde gegenüber Russland sei grundsätzlich ziemlich loyal, erläuterte sie. Allerdings wisse die Welt ganz gut, unter welchen Bedingungen die Sanktionen gegen Russland aufgehoben werden könnten, und die Welt sei sich darüber im Klaren, dass Russland diesen Forderungen nicht entgegenkommen werde.
Es bleibe nichts anderes übrig als abzuwarten, dass die Länder, die die Sanktionen verhängt hatten, ihre Haltung mit der Zeit ändern, allerdings seien die Grundlagen dafür gering, resümierte die Expertin:
„Christine Lagarde spricht richtig von dem Vertrauen, das es tatsächlich nicht gibt. Und solange es kein Vertrauen gibt, werden die Sanktionen ihre Geltung behalten, und das heißt, die russische Wirtschaft wird sich unter eingeschränkten Bedingungen entwickeln müssen.»