Postfaktische Tyrannei: Selbsttäuschung wird im Fall Skripal und MH17 zum System

Es ist amtlich: Der Absturz einer malaysischen Boeing in der Ostukraine im Juli 2014 wird nun auch offiziell Russland angelastet. Russische Soldaten hätten die Buk-Raketen in die Ukraine und nach dem Abschuss der Maschine (ohne eine Rakete verbraucht zu haben) zurück nach Russland gebracht, sagen die Ermittler. Ein Glanzstück des Postfaktischen.

Eines Kommentars nach der Art „Das haben wir doch von Anfang an gesagt“ können sich die Nato und EU Spitzen nicht enthalten – nach dem Motto: Wie schön, dass die offizielle Version sich so gut nach dem Anfangsverdacht richtet. Dass sie sich daran richten würde, haben viele auch gar nicht bezweifelt. Auch zeitlich kommt die offizielle Version sehr gelegen, nach dem Petersburger Wirtschaftsforum, der anstehenden Fußball-WM und dem EU-Gipfel im Juni, wo möglicherweise die Frage zu erörtern sein wird, was man mit Staaten tun solle, die Verkehrsflugzeuge abschössen. Diese „Teilwahrheit“ dominiert ohne jeden Zweifel den Westen. Früher oder später wird diese Version auch ganz bestimmt in gerichtliche Anklagen gegen konkrete Menschen münden.

Es gibt indes auch eine andere „Wahrheit“. Sie beherrscht die russischen Medien – und zwar nicht nur die staatlichen. Russische Politiker und Beamte können einfach nicht begreifen, warum ganze Bände von Dokumenten, die Russland den Ermittlern zur Verfügung gestellt hatte, nicht einbezogen wurden. Man hatte doch die technischen Parameter und die Konstruktionsmerkmale der Buk-Raketen freigegeben und die Ergebnisse eines Experiments präsentiert, das der Hersteller dieser Raketen durchgeführt hatte. Auch hatte man die primären (nicht bearbeiteten) objektiven Radardaten bereitgestellt… Nur stehen diese Angaben, wie Moskau behauptet, im Widerspruch zur vorherrschenden Version und werden deshalb ignoriert. Oder sie werden je nach Neigung willkürlich ausgelegt.

Ein Beispiel: Die Ermittlergruppe zeigt Teile des Rumpfes jener elenden Buk-Rakete, deren Seriennummer eindeutig bezeugt, dass der Flugkörper 1986 in der Kleinstadt Dolgoprudnyi unweit von Moskau hergestellt worden war. Das russische Verteidigungsministerium antwortet darauf, die Dienstzeit dieser Raketen betrage nicht mehr als 25 Jahre. Sie seien in Russland längst ausgemustert und entsorgt worden. Jedoch könne es auch sein, dass es in der Ukraine noch einige von ihnen gebe. Man möge also bitte bei den Ukrainern nachfragen. Wird man im Westen dem russischen Verteidigungsministerium glauben? Wohl kaum. Höchstwahrscheinlich wird ein weiteres Gegenargument ins Feld geführt: „Also habt ihr den Separatisten offiziell (in Wirklichkeit aber nicht) ausgemusterte Waffensysteme geliefert“.

Dafür glaubt man dem russischen Verteidigungsministerium in Russland umso mehr. Wo man größtenteils auch glaubt, dass das Flugzeug der Malaysia Airlines vom Boden aus von ukrainischen Soldaten abgeschossen worden sei – oder auch von der Luft aus von den Selbigen. Im zweiten Fall verweist man gern auf den Kampfpiloten Woloschin, der sich diesbezüglich angeblich verplappert und dann seinem Leben ein Ende gesetzt habe. Apropos: Warum wurde dieser Pilot uns zu seinen Lebzeiten nie präsentiert – zumindest mit dem Ziel, sein angebliches Geschwätz zu dementieren?

Wir haben es also mit der typischen Form postfaktischer Politik zu tun. Emotionen und persönliche Überzeugungen sind hierbei für die Bildung der öffentlichen Meinung sehr viel wichtiger als objektive Tatsachen. Der Fall mit der abgeschossenen Boeing verkommt so zu einer Sache des Glaubens statt der Beweismittel. Dementsprechend sehen Menschen nur die eine Seite und weigern sich beharrlich das zu betrachten, was anderen als offensichtlich und unumstößlich vorkommt. Man will das nicht sehen, was das eigene Weltbild stört.

Einem Durchschnittsrussen wird es bei dem Gedanken unwohl, dass rund 300 unschuldige Menschen, wenn auch infolge eines Fehlers, von unseren Soldaten getötet wurden und die ganze Welt uns öffentlich mit der Nase darauf stößt. Andererseits würde einem westlichen Politiker der Gedanke Unbehagen bereiten, dass ukrainische Soldaten die Verkehrs-Boeing wegen einer grandiosen Provokation beschossen haben könnten – etwa um zu einem Kriegsschlag gegen die verhassten Russen zu veranlassen.

Denn dann würde die gesamte öffentliche Verteidigung der „jungen ukrainischen Demokratie“ in sich zusammenstürzen. Selbst die Frage nach Kiews Verantwortung dafür, dass der Luftraum über dem umkämpften Gebiet damals nicht gesperrt wurde, wird nicht allzu sehr gepusht. Überhaupt wird das Vorgehen der Ukraine – ihrer Flugsicherung wie ihrer Militärs – an jenen Tagen nicht sonderlich betrachtet. Es könnte ja sein, dass sich weitere Details in die verkündete Anklageversion nicht allzu bequem einfügen lassen.

So ist es nun einmal, das Postfaktische. Es ist keine Frage der Erkundung einer objektiven Wahrheit. Es ist eine Frage der Verteidigung einer Version, die das Publikum glauben wird. Nicht ohne Grund hat der russische Außenminister, Sergej Lawrow, die Boeing-Sache mit dem Fall Skripal verglichen. In diesem Fall haben die Briten von Anfang an die Russen beschuldigt und halten sich seitdem hartnäckig an diese Position, obwohl es – „höchstwahrscheinlich“ – keine nennenswerten Beweise für deren Schuld gibt.

Auch wurde bislang kein konkreter Tatverdächtiger genannt. Für die eine Seite, die felsenfest davon überzeugt ist, dass es keine Nicht-Russen gewesen sein können, ist dabei alles glasklar: Der ältere Skripal sollte wegen Verrats vergiftet werden, aber das Gift hat versagt und die britischen Ärzte sind Profis. Das ist die eine „Wahrheit“. Die andere – „russische“ – Wahrheit ist, dass der giftige Kampfstoff, wie die Russen beteuern, so nicht funktioniert: Wäre dieses Gift angewendet worden, wären die Skripals mit Sicherheit tot.

Offensichtlich vertuschen die Briten etwas. Ungereimtheiten und Widersprüche in ihrer Version sind offenkundig. Die jüngste Mitteilung von Julia Skripal stiftet zusätzlichen Verdacht in dieser Hinsicht. Ihr Brief wurde nämlich, wie russische Diplomaten behaupten, zuerst auf Englisch verfasst, von einem englischen Muttersprachler – und ist erst dann ins Russische übersetzt worden, mit auffälligen Anglizismen. Russen sprechen nicht so, wie dieser Brief geschrieben worden ist. Im Russischen gibt es einen anderen Satzbau und solche Ausdrücke werden nicht verwendet.

Für diese russische „Post-Wahrheit“ interessiert sich im Westen aber niemand. Eine Verbreitung dieses Arguments, das die westliche Variante der „Post-Wahrheit“ nur verstören würde, lässt dort niemand zu. So wie auch bei uns die meisten es ehrlich nicht fassen können, wenn sie sich den britisch-russischen Skandal ansehen. Klar wie Kloßbrühe, denkt sich unser Durchschnittsbürger, dass das alles nur inszeniert wurde, um die Reichtümer unserer geflohenen Diebe und Oligarchen an sich zu reißen; um einen weiteren Anlass für noch mehr Druck auf Russland zu haben, das von dem im Westen verhassten Putin regiert wird; um das schlechte Ansehen der May-Regierung aufzupolieren und nebenbei die Spuren ähnlicher „Provokationen“, sagen wir, in Syrien zu verwischen.

Wir werden weiterhin in der postfaktischen Ära leben, in der die Infobilder ein und derselben Welt in unterschiedlichen Ländern immer mehr auseinanderlaufen werden. Die Welt, in der wir leben, wird selbst zusehends eine auseinanderlaufende sein. Zeitgenössische Technologien werden den Bau immer stärkerer, größerer, unüberwindbarerer Mauern fördern. Doch werden diese Mauern nicht am Boden, sondern durch die Köpfe verlaufen. Dort sind sie am beständigsten. Die öffentlichen politischen Diskussionen werden sich immer mehr an Emotionen statt an Tatsachen richten und die Fakten zugunsten eines unter den Durchschnittsbürgern vorherrschenden Weltbilds manipulieren.

Wie traurig es auch sein mag, doch nur unter demokratischen Verhältnissen konnte die „Post-Wahrheit“ ihre Kräfte entfalten. Wie von einer Rüstung wird sie vom Recht auf Meinungs- und Redefreiheit geschützt, wobei sie das objektive Weltbild allmählich verdrängt – ein Weltbild, das zusehends unerwünscht, weil immer unbequemer, wird. Wir bewegen uns schrittweise, aber unerbittlich auf einen informationellen Totalitarismus zu, auf eine Diktatur der Illusionen. Das ist, wenn die gesamte öffentliche Politik im Grunde zu einem einzigen großen Unsinn verkommt.

Als Synonym für „Lüge“ ist „Post-Wahrheit“ jedoch nicht zu verstehen. Ja, Lüge ist darin natürlich im gewissen Maß enthalten. Jedoch setzt eine Lüge voraus, dass der Mensch, der sie ausspricht, ziemlich genau weiß, dass er lügt. Bei „Post-Wahrheit“ passiert es jedoch häufig, dass ihr Sprecher daran glaubt, was er ausspricht, weil es so bequemer für ihn ist. Mehr noch: Er glaubt, er tue Gutes, weil er gegen jene arbeite, die einen Informationskrieg gegen sein Land führten. Real wird nur das, was Menschen sehen oder wissen wollen. Nur das Publikum wird wichtig, für welches ein Politiker seine „Post-Wahrheit“ ausspricht. Dieses Publikum ist einem entweder zu- oder von Anfang an abgeneigt… Also: Alle lügen? Nein, so ist es nicht ganz. Vielmehr sagen alle die reine „Post-Wahrheit“ und nichts als die „Post-Wahrheit“. Und alle glauben ihnen, weil so ihr Leben leichter wird.

Von Georgi Bowt

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