Jetzt müssen die Briten nur noch eine Frage beantworten: Was kann Russlands Führung von Skripal eigentlich wollen, wenn sie ihn freiwillig hat in den Westen ziehen lassen? Bleibt die Antwort aus, wird der Vorfall von Salisbury vollends absurd.
Von Sergej Iljin
5.368.322 Zeugen wurden befragt, einschließlich der Meerschweinchen und anderer Haustiere in Salisbury und allen Kommunen im Umkreis von 300 Kilometern – auch in London. 132.435 Fahrzeuge wurden geprüft, einschließlich der Tretroller, Fahrräder und Touristenkutschen. 26.312 Hausdurchsuchungen wurden vorgenommen, auch in verlassenen Scheunen und Schwalbennestern. 497.645 Stunden Videomaterial wurden gesichtet, einschließlich der Heimvideos der Dorfbewohner. 21.768 Gutachten wurden erstellt, auch über die unteren Boden- und die höheren Ozonschichten. Etwa so könnte ein weiterer Bericht der Ordnungshüter zum Fall Skripal, sagen wir, in fünf Jahren aussehen.
Doch auch der jetzige Bericht von Scotland Yard beeindruckt und imponiert teils sogar durch die Fülle an überwältigenden Zahlen. Die machen ihrem Ruf halt alle Ehre: Auf der Suche nach der Wahrheit durchwühlen die gar den Boden mit der eigenen Nase. Hier eine kurze Bilanz dessen, was bislang geleistet wurde.
176 Hausdurchsuchungen fanden statt. Rund 1.000 Zeugenaussagen wurden eingeholt. Circa 4.000 Stunden Aufnahmematerial von Überwachungskameras wurden gesichtet. 14.000 Autos und 2.500 Fußgänger wurden untersucht. 2.300 Beweisstücke wurden sichergestellt. 190 Labortests wurden durchgeführt. Rund 400 Adressen wurden überprüft. Neben 250 Ermittlern waren Mitarbeiter eines ganzen Dutzends von Behörden mit dieser Sisyphus-Arbeit beschäftigt. Über 1.200 Beamte aus 40 Dienststellen waren an dem Polizeieinsatz beteiligt.
Es wird auch berichtet, dass der erste Wachtmeister, der auf den Notruf reagiert hatte, nach zwei Wochen schon gesund und munter aus dem Krankenhaus entlassen wurde. So, wie die Skripals selbst. Und das, nach dem sie mit einem lebensgefährlichen Kampfstoff in Berührung gekommen waren … Alles in allem finden Ermittlungen in einem Umfang statt, dass keine einzige Nadel in den vielen Heuhaufen übersehen wird.
Und doch ist es merkwürdig: Russland oder überhaupt eine „russische Spur“ wird im Bericht von Scotland Yard kein einziges Mal erwähnt. Wie kann das nur sein, nach all den kolossalen Anstrengungen? Könnte man es hier mit einer geheimen kriminellen Kreml-Verbindung zu tun haben, die eigener Ermittlungen bedarf? Hat denn der Kreml alle britischen Ermittler und Experten gekauft? Denn die halten sich offensichtlich nicht an die vorgegebene Linie und handeln der offiziellen Position der britischen Führung zuwider, die ja flugs und wortreich Moskau der Vergiftung beschuldigt hatte. Dies tat London noch lange danach – wie eine lästige Mücke, die sich nicht vertreiben lässt. Jetzt ist die Mücke zwar irgendwie verstummt, kommt aber ganz bestimmt wieder.
Die Mitarbeiter von Scotland Yard haben Theresa May und Boris Johnson im Grunde einen Bärendienst erwiesen – wie auch all den anderen Verfechtern der Idee von der Schuld Moskaus an dem eilig zusammengeschusterten Fall Skripal. Sie haben deren überaus zahlreiche Erklärungen zu diesem Thema entwertet. Nach gerechten Göttern, die durch Blitzschläge strafen, sieht die britische Führung nunmehr nicht aus – nach einem selbstgerechten Demagogen aber schon.
Die größte Frage, die die britischen Ermittler jetzt beantworten müssen, ist: Was kann Russlands Führung von Skripal eigentlich wollen, wenn sie ihn freiwillig hat in den Westen ziehen lassen? Dabei muss die Antwort mehr als überzeugend und mehr als ausführlich ausfallen, was ein großes Problem ist. Allerdings hat die britische Führung dies schon getan, indem sie sich entgegen allen denk- und undenkbaren Regeln der Funktion des höchsten Gerichts selbstermächtigt hat. Die Fachleute und Ermittler sollten deshalb besser schweigen, mit ihren Schlussfolgerungen abwarten und sich stattdessen auf Berichte zum Stand der Ermittlungen konzentrieren, mit all den üppigen technischen Details.