Skripal-Affäre: Hat die Bundesregierung über Monate die Öffentlichkeit belogen?

Britische Behörden haben den neuesten Ermittlungsstand zum Fall Skripal bekannt gegeben: Man habe viel gesucht, aber noch nichts gefunden. Unterdessen behauptet ARD-Geheimdienstexperte Götschenberg, Berlin habe von London keinerlei Beweise für Moskaus Schuld erhalten.

Vor drei Monaten wurden der ehemalige russische Doppelagent Sergej Skripal und dessen in Russland lebende Tochter Julia bewusstlos auf einer Parkbank in der englischen Kleinstadt Salisbury aufgefunden. Auf sie soll ein Attentat mit dem in der Sowjetunion entwickelten Nervengift «Nowitschok» verübt worden sein, für das die britische Regierung innerhalb von wenigen Tagen Moskau verantwortlich machte.

Tatsächlich nach Russland führende Spuren konnten die Ermittler jedoch bis heute nicht ausmachen, wie aus einer am Dienstag veröffentlichten Stellungnahme der für die Ermittlungen zuständigen Polizeibehörde hervorgeht, die den aktuellen Untersuchungsstand zusammenfasst.

Demnach wurden im Fall Skripal bislang insgesamt 176 Durchsuchungsaktionen durchgeführt. Zudem seien 900 Zeugen befragt und 4.000 Stunden Videomaterial aus Überwachungskameras gesichtet worden. Insgesamt wurden 14.000 Fahrzeuge und 2.500 Fußgänger «nach ihrer Bedeutung eingestuft und sortiert».

«Reihe von einzigartigen und komplexen Fragen»

An der laut Behörden «akribischen Untersuchung» seien 250 Ermittler aus der Anti-Terrorabteilung beteiligt gewesen, 100 davon seien nach wie vor in der englischen Kleinstadt im Einsatz. Insgesamt seien 1.230 Polizeikräfte herangezogen worden, viele davon zur Absperrung potenzieller Tatorte in Salisbury.

Dies ist eindeutig ein sehr ungewöhnlicher Fall – sowohl in seinem Umfang als auch in seiner Komplexität. Wir haben von Anfang an gesagt, dass diese Untersuchung einige Zeit in Anspruch nehmen würde, da wir gründlich nach Beweisen suchen», heißt es in der Polizeimitteilung.

Man beschäftige sich «weiterhin mit einer Reihe von einzigartigen und komplexen Fragen in einer äußerst anspruchsvollen Untersuchung» und sei sich sicher, dass die Öffentlichkeit Verständnis dafür habe, «dass es noch eine Reihe von Ermittlungssträngen gibt, die wir zum jetzigen Zeitpunkt nicht diskutieren können». Im Sicherheitsinteresse der Skripals, die mittlerweile aus dem Krankenhaus entlassen wurden, «werden wir keine Schutz- oder Sicherheitsvorkehrungen diskutieren, die gegenwärtig in Kraft sind», so die Behörde.

Bemerkenswerterweise ist in ihrer Stellungnahme von Russland keine Rede, dabei hatten von den Medien in den letzten Monaten zitierte «hochrangige Ermittler» – die jedoch nie namentlich genannt wurden – stets trotz aller noch offenen Fragen ihre Überzeugung bekundet, dass Moskau für das Verbrechen verantwortlich ist.

Der Chef der zuständigen Polizei in Wiltshire zeigt sich jedenfalls optimistisch, dass Verdächtige noch ermittelt werden würden:

Ich bin absolut zuversichtlich, dass dieser Tag kommen wird, aber im Moment müssen wir den Ermittlungen Raum geben», sagte Kier Pritchard am Mittwoch gegenüber Sky News.

Ob die Skripals selbst in der Lage waren, sich an den Tag des Vorfalls zu erinnern und so zur Aufklärung des Falls beitragen konnten, konnte Pritchard gegenüber dem Sender nicht sagen, da er mit den «feinen Details» der Untersuchung nicht vertraut sei. Wobei es durchaus als bemerkenswert erscheinen muss, wenn die Aussagen der potenziell wichtigsten Zeugen zu einem kaum bedeutenden Detail herabgewürdigt werden.

ARD-Geheimdienstexperte: Bundesregierung hat von London keine Beweise erhalten

Noch bemerkenswerter ist allerdings, dass die deutsche Bundesregierung die von London gegen Moskau erhobenen Schuldvorwürfe für «plausibel» hält, obwohl die Briten diesbezüglich offenbar bis heute ihren Partnern keinerlei Beweise vorgelegt haben. Das behauptet zumindest der ARD-Geheimdienstexperte Michael Götschenberg in einem am Donnerstag ausgestrahlten Interview mit dem RBB-Inforadio.

Laut diesem hat die Bundesregierung am Mittwoch das für die Kontrolle der Geheimdienste zuständige Parlamentarische Kontrollgremium des Bundestages (PKGr) darüber informiert, dass sie bis heute keinerlei Beweise von London für die Darstellung bekommen hat, dass Russland für den Giftanschlag verantwortlich ist.

«Man hat lediglich die Erkenntnis, dass es sich bei dem eingesetzten Gift um das Nervengift Nowitschok handelt, das seinerzeit mal in der Sowjetunion hergestellt worden war. Aber man kann noch nicht mal beweisen, dass dieses Gift, das eingesetzt wurde, tatsächlich auch aus Russland gekommen ist», so Götschenberg.

Die Bundesregierung habe auch keine eigenen Erkenntnisse durch den BND gewinnen können, der seine Quellen befragte, um die britischen Angaben zu verifizieren. «Man hat keinerlei Hinweise darauf gefunden, dass das, was die Briten behaupten, tatsächlich auch stimmen könnte», so Götschenberg, der weiter ausführt:

«Man hat weder Beweise dafür gefunden, dass das Gift aus Russland kam, geschweige denn Beweise dafür, dass der Kreml in irgendeiner Weise für diesen Anschlag verantwortlich ist. Und dann erstaunt es schon sehr, dass nicht weniger als 26 Staaten plus NATO zahlreiche russische Diplomaten ausgewiesen haben. Man fragt sich, auf welcher Grundlage. Das war ja ein Vorfall, den es in dieser Größenordnung noch nie gegeben hatte – und der die diplomatische Beziehung zu Russland wirklich auf dramatische Weise belastet hat. Und wenn die einzige Grundlage dafür die Behauptung Großbritanniens gewesen ist, ‘das sind die Russen gewesen’, dann ist man in der Tat ein bisschen erstaunt.

Umso erstaunlicher ist, dass Sprecher der Bundesregierung noch am Montag auf Nachfrage von RT Deutsch den Standpunkt Londons bekräftigt hatten, laut dem es «keine plausible alternative Erklärung» gebe:

«Wir haben damals gesagt: Wir teilen die Einschätzung des Vereinigten Königreichs, dass es keine andere plausible Erklärung gibt. Diese Haltung ist weiterhin die Haltung der Bundesregierung. Wir sehen auch heute keinen Grund, von dieser Bewertung abzuweichen», sagte Regierungssprecher Steffen Seibert.

 

Zur Begründung der Ausweisung russischer Diplomaten aus Deutschland hatte Außenminister Heiko Maas Mitte März erklärt: «Das, was uns an Details von Großbritannien vorgelegt wurde, lässt keine alternative plausible Erklärung zu, als dass die Verantwortung in Russland zu suchen ist.»

Auch ohne Belege: Berlin spricht von russischem «Nowitschok-Programm»

Um welche Details es sich dabei handeln soll, darüber schwieg sich Berlin in weiterer Folge konsequent aus. Londons Hauptargument für die Schuld Moskaus liegt in der Behauptung, nur Russland sei im Besitz der Tatwaffe Nowitschok. Doch mittlerweile hat sich das als falsch herausgestellt, da sich mehrere NATO-Staaten, darunter auch Deutschland und Großbritannien selbst, seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion das Nervengift beschafft hatten.

Ob dagegen Russland, das all seine Chemiewaffenbestände unter Aufsicht der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) vernichtet hatte, wie von London behauptet über Nowitschok verfügt, dafür gibt es indessen keine Belege.

Am Montag unterstrich Christoph Burger, Sprecher des Auswärtigen Amtes, dass sich die Bundesregierung nie die Argumentationskette zu eigen gemacht habe, «es war Nowitschok; also war es Russland». Das Argument sei nur «eines von mehreren Elementen gewesen, die in ihrer Gesamtschau dazu geführt haben, dass wir zu der Bewertung gekommen sind, dass die Spuren in diesem Fall nach Russland führen».

Über die anderen Elemente lässt sich nur spekulieren. Bekannt ist, dass London seinen Partnern eine sechsseitige Power-Point-Präsentation vorlegte, die zwar viele Anschuldigungen, aber keine Belege enthält.

Zudem ist bekannt, dass Großbritanniens Nationaler Sicherheitsberater Mitte April einen Brief an den NATO-Generalsekretär sowie die EU-Partner verfasste, in dem behauptet wurde, Russland betreibe seit mindestens fünf Jahren ein geheimes Chemiewaffenprogramm.

Dieses Programm hat in der Folge auch Möglichkeiten erforscht, wie verschiedene Nervengas-Arten am besten eingesetzt werden können, einschließlich ihres Anbringens an Türklinken», behauptete Sir Mark Sedwill in seinem Schreiben. Das in Salisbury verwendete Nowitschok soll an der Türklinke des Hauses von Sergej Skripal angebracht worden sein.

Die Bundesregierung übernahm auch diese britische Behauptung unhinterfragt und forderte Russland in einem Schreiben auf, sein «Nowitschok-Programm» gegenüber der OPCW offenzulegen. Auch Kanzlerin Angela Merkel sprach von einem «Chemiewaffenprogramm» der Russen.

Sollten die Aussagen des ARD-Geheimdienstexperten stimmen, dann verfügt die Bundesregierung über keinerlei Belege, die auch nur im Ansatz die Schlussfolgerung rechtfertigen könnten, wonach es «keine alternative plausible Erklärung» als eine Schuld Moskaus gäbe.

London liefert nicht nach – Washington hat sich präventiv abgesichert

Und offenbar ist London auch gar nicht in der Lage, noch beweiskräftige Belege nachzuliefern, wie Götschenberg ausführt. Sein entscheidendes Beweismittel ist mittlerweile offenbar eine moderne Form des mittelalterlichen Übersiebnungseids:

Das Absurde an der ganzen Geschichte ist ja, dass die Briten, wenn sie nach Beweisen gefragt werden, mittlerweile sagen: ‘Wenn 26 Staaten unserer Sicht auf die Dinge gefolgt sind, dann sind die Beweise doch wohl eindeutig.’ Das heißt, es wird diese diplomatische Krise benutzt, um die fehlenden Beweise quasi wettzumachen. Und das ist schon ziemlich absurd.

Für die Bundesregierung entwickelt sich die Skripal-Affäre hinsichtlich ihrer eigenen Glaubwürdigkeit zunehmend zu einem Fiasko. Sie hätte sich die US-Regierung zum Vorbild nehmen sollen, die sich wesentlich schlauer angestellt hat. Um gar nicht erst in die argumentative Bredouille hinsichtlich der von London vorgelegten vermeintlichen Belege zu kommen, hatte die Sprecherin des US-Außenministeriums Ende März auf Nachfrage erklärt, dass man keine Beweise brauche:

Wenn das Vereinigte Königreich uns sagt, dass es Beweise hat und dass es weiß, dass Russland verantwortlich war, dann haben wir allen Grund, es zu glauben.

Washington verzichtete damit auf etwaige Plausibilitätsprüfungen der britischen Angaben und sicherte sich dadurch vorsorglich ab: Fliegt die Skripal-Affäre als Schwindel auf, dann fällt alles auf London zurück. Im Falle Berlins ließe sich Gleiches dann allerdings nicht sagen.

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