CDU und CSU haben den Konflikt, der die Bundesregierung zu sprengen droht, um zwei Wochen vertagt.
Von Johannes Stern
Am Montagnachmittag gaben Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Innenminister Horst Seehofer (CSU) in Berlin und München zwei separate Pressekonferenzen zur Regierungskrise. Seehofer kündigte an, dass er die umstrittene Maßnahme, Flüchtlinge, die bereits in einem anderen Land der Europäischen Union registriert wurden, direkt an der deutschen Grenze abzuweisen, erst nach dem EU-Gipfel Ende Juni in Kraft setzen will. Bis dahin soll Merkel Zeit haben, eine „europäische Lösung“ zu finden. Merkel ihrerseits drohte mit ihrer Richtlinienkompetenz als Regierungschefin, sollte Seehofer ohne Rücksprache handeln.
Die Ausführungen der beiden Unionsparteivorsitzenden machten deutlich, dass sowohl die CDU wie die CSU die Angriffe auf Flüchtlinge verschärfen und die Flüchtlingspolitik der rechtsextremen AfD übernehmen. Vor Pressevertretern in Berlin versicherte Merkel, dass ihre sogenannte „europäische Lösung“ der Flüchtlingsfrage wie Seehofers „nationale Lösung“ die rigorose Abwehr von Flüchtlingen verfolgt.
„Wir sind der Meinung, dass CDU und CSU das gemeinsame Ziel haben, die Immigration in unser Land besser zu ordnen und zu steuern und die Zahl der bei uns ankommenden Menschen deutlich zu verringern, damit sich eine Situation wie des Jahres 2015 nicht wiederholten wird und kann“, erklärte sie. Das sei „das Bekenntnis auch aus dem Regelwerk zur Migration, dass CDU und CSU gemeinsam miteinander verabschiedet haben.“
Dann erklärte Merkel, ihre Partei unterstütze „die Initiative des Bundesinnenministers Horst Seehofer zusätzlich einen Masterplan zur Migration vorzulegen“.
Gestern wurden weitere Details dieses reaktionären Plans bekannt. Neben der Errichtung von sogenannten „Ankerzentren“ – de facto Konzentrationslager für die schnellere Deportation von Flüchtlingen – sollen unter anderem Geldleistungen an Flüchtlinge stark gekürzt und auf Sachleistungen umgestellt werden. Außerdem soll der Zeitraum, in dem Asylbewerber nur einen mickrigen Grundbedarf erstattet bekommen, bevor sie Anspruch auf Leistungen auf Sozialhilfeniveau haben, von 15 auf 36 Monate verlängert werden.
Selbst Seehofers angekündigte Maßnahme, bereits registrierte Flüchtlinge durch die Bundespolizei direkt an der deutschen Grenze abzuweisen, schloss Merkel nicht komplett aus. Auf die Frage eines Reporters, ob „sie zur Not auch eine Politik unterstützen“ würde, „die doch auf eine Umsetzung von Seehofers Plan hinausläuft“, antwortet sie süffisant: „Sie kennen mich. Ich beantworte keine Wenn-Dann-Fragen.“ Man sehe sich „wieder am ersten Juli und spätestens dann kann ich ihnen das sagen“.
Ende Juni, nach der Tagung des Europäischen Rates, läuft die 14-Tagesfrist ab, auf die sich Merkel mit Seehofer geeinigt hat, um ihre „europäische Lösung“ durchzusetzen. Durch bilaterale Abkommen mit anderen europäischen Regierungen will Merkel erreichen, dass Flüchtlinge, die bereits in einem anderen Land registriert wurden, von der Weiterreise nach Deutschland abgehalten werden.
Als Modell nannte sie in der Pressekonferenz den Flüchtlingsdeal mit der Türkei. Dieses schmutzige Abkommen, das die Bundesregierung vor drei Jahren im Namen der EU mit Ankara ausgehandelt hat, verpflichtet das Erdogan-Regime, gegen Geldleistungen Flüchtlinge aus den Kriegsgebieten in Syrien, dem Irak und Afghanistan von Europa fernzuhalten. Gleiches strebt Merkel nun mit den „Herkunftsländern“ wie Griechenland und Italien an. Bereits gestern Abend verhandelte Merkel mit dem italienischen Ministerpräsidenten Giuseppe Conte, dessen rechtsradikaler Innenminister Matteo Salvini „alle 600.000“ Migranten aus Italien ausweisen will.
Merkel pocht auf ihre „bilaterale“ Flüchtlingsstrategie, da sie fürchtet, Seehofers Kurs werde eine europaweite Kettenreaktion auslösen und das Auseinanderbrechen der Europäischen Union beschleunigen. Sie unterstütze, dass wir in Zukunft „die Flüchtlinge nicht mehr einreisen lassen, die entsprechend der Dublin-Verordnung bereits im Einvernehmen mit dem betreffenden Land an das Land zurücküberstellt wurden, in dem sie zuerst registriert worden sind“, erklärte sie.
Aber es läge „im deutschen Interesse, die Ordnung und Steuerung der Migration in guter Partnerschaft mit unseren europäischen Nachbarn zu erreichen. Deshalb glauben wir, dass unabgestimmte Zurückweisungen an unseren Grenzen als Land im Herzen Europas zu negativen Dominoeffekten führen könnten, die auch zu Lasten Deutschlands gehen und letztlich zur Infragestellung des europäischen Einigungswerkes führen könnten.“
Seehofer, der die Rolle des rechten Einpeitschers in der Große Koalition spielt und nur wenige Minuten nach Merkel in München sprach, jubelte, dass von der CDU „von den 63 Punkten seit heute 62 ½ unterstützt werden“. Im Übrigen sei er auch für eine „europäische Lösung“. Seine Unterstützung gelte „insbesondere für die Bemühungen der Kanzlerin für bilaterale Abkommen“ und die „Bemühungen der künftigen Ratspräsidentschaft Österreichs“. Wenn „auf europäischer Ebene oder durch bilaterale Abmachungen wirkungsgleich das Gleiche zu erzielen ist, wie durch die Zurückweisung an der Grenze, dann würden wir uns darüber freuen“. Aber für den Fall, dass dies nicht gelingt, bleibe die CSU „bei unserer Position, dass die Zurückweisung unmittelbar an der Grenze möglich sein muss“.
Beim Streit zwischen Merkel und Seehofer geht es um weit mehr als unterschiedliche Strategien in der Flüchtlingspolitik. Nach dem Scheitern des G7-Gipfels am letzten Wochenende und dem sich entwickelnden Handelskrieg mit den USA sucht die herrschende Klasse nach Mitteln und Wegen, wie sie ihr Diktat in Europa am besten durchsetzen kann, um die geostrategischen und wirtschaftlichen Interessen des deutschen Imperialismus international zu verfolgen.
In einem Gastbeitrag in der Montagsausgabe der Frankfurter Allgemeinem Zeitung machte Seehofer selbst deutlich, worum es geht. „Die bestehende Ordnung, die wir alle kennen und lieben, sie geht dem Ende zu und es entsteht eine neue Ordnung.“ Er stimme dem rechts-konservativen Historiker und Journalisten Michael Stürmer zu, der erklärt habe: „Amerikas Jahrhundert ist noch nicht zu Ende, das chinesische Jahrhundert hat noch nicht begonnen. Ein Interregnum steht bevor. Nach aller Erfahrung sind solche Zeiten voller Gefahr, Drama und Konflikt. Eine ordnungsmäße freundschaftliche Machtübergabe wäre ein Novum in der Weltgeschichte.“
Während Seehofer vor allem eng mit den extrem nationalistischen Regierungen in Italien, Österreich und Osteuropa paktieren will, um die „neue Ordnung“ vorzubereiten, treten Merkel und weite Teil der CDU für eine engere Zusammenarbeit mit Frankreich ein. Ihr Ziel ist es, die EU in einen Militärblock gegen die USA, Russland und China zu verwandeln.
Sie unterstütze „die vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron vorgeschlagene Interventionstruppe“, erklärte Merkel in der Talkshow von Anne Will kurz nach dem Scheitern des G7-Gipfels. Die „Kernfrage“ sei: „Wird die Europäische Union in der Lage sein, eine gemeinsame Außenpolitik zu vertreten? Oder wird einer immer eine Absprache haben mit Amerika, einer eine mit China und einer eine vielleicht mit einem Dritten?“ Sollten es die Europäer nicht schaffen, „auch ein starker, in sich durch Loyalität verbundener Pol zu werden“, würden sie „zerrieben werden in einer Welt, in der ganz starke Pole da sind: China, Russland, Amerika.“
Einflussreiche Stimmen in Politik, Wirtschaft und Medien haben die Unionsparteien in den letzten Tagen davor gewarnt, eine Regierungskrise zu provozieren, die die deutschen Großmachtambitionen gefährden könnte.
In einem Kommentar für den Berliner Tagesspiegel äußerte der ehemalige sozialdemokratische Außenminister Sigmar Gabriel Verständnis für die Position Seehofers, warnte CSU und CDU aber davor, sich „wie Oppositionsparteien“ zu verhalten. Es sei „unglaublich verantwortungslos, ausgerechnet jetzt Deutschland in eine Regierungskrise zu führen […] wo Europa mitten in einer großen Krise ist und sich bislang unbekannten Herausforderungen gegenübersieht: dem Ende des Westens, wie wir ihn bislang kannten… und neuen Mächten, die uns wirtschaftlich, politisch und militärisch herausfordern.“
Linkspartei und Grüne äußerten sich ähnlich. „Dass eine Partei ein Land und damit die Stabilität in Europa zum Spielball ihrer eigenen Interessen macht, dass ist eine Art von Verantwortungslosigkeit, die wir noch nicht erlebt haben“, erklärte der Grünen-Vorsitzende Robert Habeck. Es unterminiere „die Handlungsfähigkeit der Bundesregierung“ und sei eine „ganz dramatische Schwächung der deutschen Politik“. Der Fraktionsvorsitzende der Linkspartei, Dietmar Bartsch, beklagte die „Chaostage bei der Union“. Es sei „ganz schlimm, dass die CSU nur an ihre Wahlziele in Bayern denkt und nicht an das große Ganze“.
Die Sozialistische Gleichheitspartei ist die einzige Partei, die der rechten Offensive der Großen Koalition von links entgegentritt und die wachsende Opposition unter Arbeitern und Jugendlichen gegen die Politik des Militarismus, der Flüchtlingshetze und des Sozialkahlschlags politisch entwickelt. Die einzige Antwort auf die kapitalistische Barbarei, die Europa und die Welt bereits im vergangenen Jahrhundert in zwei schreckliche Weltkriege gestürzt hat, ist der Aufbau einer machtvollen Bewegung der internationalen Arbeiterklasse auf der Grundlage eines sozialistischen Programms und des Kampfs für die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa.