Österreichs EU-Ratsvorsitz: „Migration steuern, Wohlstand sichern, Brücken bauen“

Ab Juli übernimmt Österreich die EU-Ratspräsidentschaft. Als Schwerpunkt hat sich Bundeskanzler Sebastian Kurz die europäische Migrationspolitik gesetzt. Er kündigte an, „die Migration unter Kontrolle zu bringen“. Was bedeutet der österreichische EU-Ratsvorsitz für Europa? (Nachgefragt beim Experten für Sicherheitspolitik, Dr. Thomas Roithner.)

Von Paul Linke

In der zweiten Jahreshälfte übernimmt Österreich den EU-Ratsvorsitz. Den Schwerpunkt will die österreichische Bundesregierung in ihrer Präsidentschaft auf das Thema Sicherheit legen. Das Motto des Bundeskanzlers Sebastian Kurz dabei lautet: „Ein Europa, das schützt.“ Drei wesentliche Punkte würden im Vordergrund stehen, erklärt der Politikwissenschaftler Dr. Thomas Roithner im Sputnik-Interview: „Sicherheit und Kampf gegen illegale Migration. Das Lieblingsthema der Bundesregierung. Schutz der Außengrenzen und Aufstocken der Europäischen Agentur für Grenz- und Küstenwache, Frontex. Der zweite Punkt ist die Sicherung des Wohlstandes. Auch das wird in den Kontext der Sicherheit gesetzt, also auch digitale Sicherheit. Und der dritte Punkt ist ein traditioneller für Österreich. Nämlich die Nachbarschaftspolitik. Wie kann man Südosteuropa an die EU heranführen? Aber auch da geht es um die Frage der Sicherheits- und Wirtschaftsinteressen.“

Migrationskrise als Antrieb?

Die Migrationspolitik bestimme die Außen- und Sicherheitspolitik in Österreich, erklärt Roithner. Das werde deutlich, wenn man die Debatten in der Alpenrepublik verfolge, bemerkt der Privatdozent für Politikwissenschaften an der Universität Wien. „Die Instrumente, die da zugeordnet werden, sind vor allen Dingen mehr Kompetenzen für Armee und Geheimdienst, Bewaffnung, Zäune, Grenzen, Abschreckung usw.“ Hier könne man eine Konzeption erkennen: „Sicherheit für die EU und den Nationalstaat. Wenn die EU-Partner mitmachen, dann ist das gut. Ansonsten nationaler Grenzschutz im Alleingang.“ Da stecke ein Weltbild dahinter, das etwas ängstlich und pessimistisch sei, so Roithner. „Auch wenn man sich das Regierungsprogramm in Österreich gegenwärtig anschaut. Hier sieht man an allen Ecken und Enden Gefahr und Unheil drohen. Es ist viel weniger von Chancen und Gestaltung die Rede“, bemängelt der Sicherheitsexperte.

Österreich für mehr Eigenständigkeit in der EU

Als Ziel gesetzt habe sich Österreich, die Subsidiarität heranzuziehen. Also ein selbstbestimmtes und eigenverantwortliches Handeln der EU-Mitgliedsstaaten. „D.h. die EU fokussiert sich auf große Fragen und nimmt sich in anderen Fragen zurück. D.h. weniger EU, aber dafür effizienter.“ Diese Fragen hat die österreichische Regierung im Programm der Ratspräsidentschaft definiert. Es gehe dort um die „Sicherheits-, Verteidigungs-, Rüstungs- und Migrationsfrage sowie Digitalisierung“. Doch auf der anderen Seite gebe es eine Reihe von anderen Staaten, die das Szenario der Subsidiarität nicht bevorzugen würden, so der Politikforscher. Diese hätten als Ziel „eine Weiterentwicklung der Europäischen Union in Form von Kerneuropa“. Als Beispiel nennt Roithner die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit (SSZ oder Pesco) bei den europäischen Rüstungsprojekten, was im Dezember 2017 beschlossen wurde.

Doch in dem Fall seien das Szenario der Subsidiarität und das Szenario eines Kerneuropas inhaltlich deckungsgleich, meint der Sicherheitsexperte. Das hänge damit zusammen, dass die Vertreter beider Szenarien sich mehr „Muskeln für die EU“ wünschen würden. „Auch mehr Militär für die EU und mehr Militäreinsätze“, befürchtet Dr. Roithner. Für ihn bedeute das, „dass die EU stärker danach trachten wird, wirtschaftliche, geostrategische und sonstige Interessen mit militärischen Mitteln umzusetzen.“ Und das sei nicht nur eine Frage der Auslandseinsätze, sondern auch eine Frage der Stärkung der „rüstungsindustriellen Entwicklung“, so der Friedensforscher.

„Wir sehen dies bei dem Rüstungsfond, der Verteidigungsfond genannt wird. Für die Phase 2021 bis 2027 stehen hier 13 Milliarden Euro für Rüstungsprojekte zur Verfügung. D.h. hier setzt man stark auf die militärische Karte. Da geraten eine ganze Reihe Dimensionen aus dem Blickfeld, die mit einem erweiterten Sicherheitsverständnis zu tun haben: Arbeitsplatzsicherheit, der Schutz vor wachsender Ungleichheit oder auch der Klimawandel“, kritisiert Roithner. Schulden für Rüstung würden somit salonfähig und Schulden für Arbeitsmarktprogramme würden in Widerspruch mit den Defizitregeln geraten, so Roithner.

Wo bleibt da noch die Neutralität?

Das militärische Kerneuropa funktioniere nicht im Einklang mit der Neutralität, an der sich Österreich traditionell orientiere, meint Roithner und fragt: „Welche Neutralität ist da eigentlich gemeint? Wo hat sich die Neutralität im Laufe der zweiten Republik in Österreich umdefiniert, dass man plötzlich die Erleichterung von Militäreinsätzen und das Eingehen von Rüstungsverpflichtungen neutralitätskompatibel sieht?“ Der Friedensforscher Roithner sieht in der Neutralität eine „Haltung der Kriegsverweigerung“.

Österreich: Vom Verhandlungsort zum Brückenbauer

Aber Roithner hat nicht nur Kritik an dem österreichischen EU-Ratsprogramm übrig. Er glaube auch, dass Österreich eine ganze Reihe an Punkten thematisiert habe, die in der Ratspräsidentschaft für Dialog und Verständigung sorgen könnten. So sei Österreich ein „aktiver Ort des Dialogs“. „Österreich war Verhandlungsort für das Iran-Abkommen. Es gab mehr oder weniger erfolgreiche Gespräche zu Syrien und Libyen, zur Ukraine.“ Hier stelle sich die Frage, wie man von einem Verhandlungsort zu einem Brückenbauer und Vermittler kommen könne, sagt Roithner. Zudem sei für ihn das Engagement Österreichs für eine atomwaffenfreie Welt von besonderer Wichtigkeit. Das sei ein Teil des österreichischen Regierungsprogramms. Nun möchte die Bundesregierung das in ihrer EU-Ratspräsidentschaft konsequent fortsetzen, so Doktor Roithner. „Das halte ich für gut und richtig“, lobt Roithner. Es gehe darum, diesen Atomwaffenverbotsvertrag, den Österreich auch ganz wesentlich mitgestaltet hat, zu stärken und mit der Zivilgesellschaft daran gemeinsam zu arbeiten.

Arbeit des Rates

Zusammen mit dem Europäischen Parlament übt der Rat der Europäischen Union die Rechtsetzung der EU aus. Daneben dient dieser zur Abstimmung und Koordinierung der Regierungen bzw. Fachminister in den intergouvernementalen Politikbereichen. So auch in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Die Ratspräsidentschaft wechselt halbjährlich zwischen den europäischen Mitgliedstaaten. Zu den Aufgaben des Ratsvorsitzes gehören, die Tagungen des Rates zu organisieren und zu leiten, bei Problemen zwischen Mitgliedstaaten oder zwischen dem Rat und anderen Unionsinstitutionen Kompromissvorschläge in Abstimmung mit den betroffenen Parteien auszuarbeiten und den Rat gegenüber anderen Institutionen und Organen der Union sowie gegenüber anderen internationalen Organisationen und Drittstaaten zu vertreten.

Das komplette Interview mit Dr. Thomas Roithner zum Nachhören:

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