Russischer Experte Trenin zum Spiegel-Chefredakteur: USA wollen, dass Russland zusammenbricht

Sind heutige Konflikte regelbar? Haben sie den Namen «Kalter Krieg» verdient? Und wo liegt der Ursprung der Konfrontation mit Russland? Wolfgang Ischinger und Dmitri Trenin gehen bei einer Diskussion der Körber-Stiftung in ihren Analysen auseinander.

Von Wladislaw Sankin/RT

Zwei Männer, die auf eine bewegte Vergangenheit an Verhandlungstischen zurückblicken können – in den 1980er-Jahren waren sie an vielen historischen Treffen unmittelbar beteiligt, der eine als Sowjetoffizier bei Genfer Abrüstungsgesprächen, der andere als hoher westdeutscher Diplomat. Heute leiten sie die einflussreichsten Thinktanks in ihren Ländern – Wolfgang Ischinger die Münchner Sicherheitskonfenz und Dmitri Trenin das Moscow Carnegie Zentrum für internationalen Frieden, beide bereits seit zehn Jahren.  Bei einer Veranstaltung der Körber-Stiftung kamen sie im Herzen der Hamburger Speicherstadt zu einem Podiumsgespräch «Frieden machen: ein neuer Kalter Krieg?» zusammen.

Zwei Stunden stellten sie sich den Fragen des Spiegel-Chefredakteurs Klaus Brinkbäumer und der anwesenden Gäste, darunter auch Reporter von RT. In der Präambel zur Veranstaltung heißt es, die Beziehungen zwischen dem Westen und Russland hätten sich zuletzt stark abgekühlt. Auslöser dieser Zuspitzung seien:

Die Annexion der Krim, die militärische Intervention Russlands in Syrien, der Vorwurf elektronischer Kriegsführung und Einmischung in Wahlprozesse westlicher Staaten sowie die Verstärkung militärischer Präsenz im Baltikum vonseiten der NATO als auch Russlands.

Über den Westen ernüchtert

Seit 2014 sind traditionell alle Diskussionen zum Thema «Russland und der Westen» in einen solchen anklagenden Ton verpackt: Russland sei an allem schuld, selbst wenn manche Repräsentanten der westlichen transatlantischen Eliten im Zuge der Gespräche eigene Fehler zugeben. So war es auch diesmal: Der langjährige Chef der Münchner Sicherheitskonferenz Wolfgang Ischinger wertete die Alleingänge der Bush-Regierung bezüglich der NATO-Osterweiterung als Fehler und Affront gegenüber Russland.

Er verglich die Rede Wladimir Putins im deutschen Bundestag im Jahre 2001, die mit begeisterten Applaus aufgenommen wurde, mit seiner Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2007. Die letzte sei schon «grimmig» gewesen. Die Handreichung gegenüber dem Westen und Deutschland einerseits, die roten Linien, die er dem Westen setzte, andererseits – dazwischen lägen Welten. In dieser Zwischenzeit habe die Bush-Regierung aufgehört, die Russen in Fragen der NATO-Osterweiterung zu konsultieren, was sich im «Vorschlag von Budapest» gipfelte, als J.W. Bush im April 2008 bei einem NATO-Gipfel die Ukraine und Georgien auf die Liste der NATO-Beitrittskandidaten aufnehmen wollte.

Deutschland und Frankreich haben damals diesem Vorschlag nicht zugestimmt. Ischinger sieht da Ansätze für westliche Selbstkritik, die ihm bei den Russen fehlt. Obwohl auch er einräumte, dass sich im Streit zwischen Russland und dem Westen jeweils beide Seiten behaupten, «die Guten» zu sein. Dmitri Trenin entgegnete, in Russland gebe es genug kritische Stimmen, die die russische Politik hinterfragen, vor allem im Internet, wo es eine «florierende Kultur des Nachdenkens» gebe:

«Die Russen wissen, dass sie nicht perfekt sind», so Trenin.

Auch bei der Einschätzung der Konflikt-Genese lagen die beiden Redner Trenin und Ischinger weit auseinander. Dmitri Trenin, der die russische Abwendung vom Westen bereits in seinem Buch «Einzelschwimmen» aus dem Jahr 2009 registrierte, sieht das Problem darin, dass Russland sich mit der Position eines fügsamen «Juniorpartners», die USA, NATO und EU für Russland vorsahen, nicht zufriedengeben wollte. Außerdem seien die Wunden des Zerfalls der UdSSR, die man in Analysen oft als «Phantomschmerz» abtue, noch nicht überwunden. Mit dem Zusammenbruch des sowjetischen Systems, das sich auf alle Lebensbereiche erstreckte, erlebte das Land eine zivilisatorische Erschütterung, von der es sich nur langsam erholt, auch wenn die auf friedlichem Wege erfolgte «Selbstbefreiung» vom Kommunismus eine gute Sache gewesen sei.

Nun befinde sich die Welt in einer Transformation, die auch den Westen erfasse. Dennoch machten die USA als einzige Supermacht keine Anstalten, ihre Position aufzugeben und einfach, wie es auch von Russland gewünscht ist, «eine normale Großmacht» zu werden. Russlands Ziel in der derzeitigen Periode sei einfach, zu überleben, denn die USA wollten Russland «zum Zerbrechen bringen»:

Es geht nicht um Donbass und Syrien, es geht um die Weltordnung, Russland ist die schwächere Partei, die die Weltordnung in Frage stellt. Es macht für die USA mehr Sinn, Russland anzugreifen, denn es kostet nichts. China ist viel schwieriger.

Auch seinem transatlantisch gesinnten Kollegen Wolfgang Ischinger ist diese Strategie nicht entgangen. Er räumte ein, dass die Handlungen der USA darauf abzielten, Russland das Leben noch schwerer zu machen.

Doch im Unterschied zum Kalten Krieg, als der Konflikt auf grundsätzlichem Antagonismus basierte, sieht Ischinger den Konflikt diesmal als nicht so weitreichend:

Der alte Kalte Krieg verlangte das Verschwinden eines der Akteure. Jetzt ist er regelbar. Im Grunde gehe es derzeit viel eher um Wettbewerb zwischen Russland, den USA und Westeuropa.

Missverständnis, das die Welt rettete

Die wenigen «heißen» Krisen des Konflikts wie etwa die Ukraine oder Syrien seien lösbar. Der ehemalige Botschafter in Washington und London Wolfgang Ischninger glaubt an die Kraft internationaler Institutionen. Eine UN-Mission könne beispielsweise den Konflikt im Donbass beilegen. Auf eine RT-Frage, ob es das Vorankommen des Minsker Prozesses nicht behindere, dass der Westen die ukrainische Seite vorbehaltlos unterstützt, entgegnete Ischinger, der Westen könne nicht «auf einem Auge blind sein», Russland sei in der Ostukraine durch sein Personal dort «Aggressor».

Für Dmitri Trenin hingegen ist im Ukraine-Konflikt keine Lösung in Sicht. Für die ukrainische Führung sei Minsker Abkommen ein Regelwerk, das aus einer militärischen Niederlage hervorgegangen sei, für Russland und die Bewohner des Donbass sei die Rückkehr der Region unter ukrainische Obhut unmöglich.

Für den russischen Experten steht außer Frage, dass man in der Welt zurzeit mit einem Krieg zu tun hat, nur sei anderes Vokabular nötig, um ihn zu umschreiben.

Er findet in Bereichen statt, in denen es keine Grenzen gibt – im Handel, bei den Finanzen, im Internet. Es ist ein hybrider Krieg», so Trenin.

Bei so großem Pessimismus könnte der Rückblick auf die Zeiten, als der Westen und die UdSSR über das Schicksal zweier deutscher Staaten verhandelten, etwas Optimismus bringen. Im Gründe genommen habe die Tatsache, dass es damals nicht zu einem Atomkrieg gekommen ist, auf einem Missverständnis der sowjetischen Führung und dem Idealismus Michail Gorbatschows basiert, so Trenin («faszinierend» fand der Spiegel-Chefredaktuer Klaus Brinkbäumer diese Theorie). Dass der Generalsekretär der KPdSU und später der erste und der letzte Präsident der UdSSR für einen Weltpolitiker erschreckend idealistisch war, waren die beiden Experten des Podiums einer Meinung.

Wer bestimmt die Regeln?

In der Analyse der heutigen politischen Verhältnisse lagen sie aber weit auseinander, obwohl die Denkfabrik, die Dmitri Trenin leitet, einer US-Stiftung entstammt und in Russland dem regierungskritischen Spektrum zugerechnet wird. Wolfgang Ischinger sah die Möglichkeit einer Verbesserung der Beziehungen zu Russland, sofern Russland wieder «nach etablierten Regeln» agiere. Nach Trenin ist eben das unmöglich, denn Russland hinterfrage diese Regeln vehement.

Hinzu kommt noch der Widerspruch, der Ischinger möglicherweise entgangen ist, dass auch bezüglich der «etablierten» Regeln des Westens spätestens seit dem von der US-Regierung entfachten Handelsstreit mit der EU nicht mehr klar ist, welche das nun genau sind. Nach dem Desaster beim G7-Gipfel hat auch der Chef der Münchner Sicherheitskonferenz die «übelsten Befürchtungen an den kommenden NATO-Gipfel im Juli».

Solange der Westen sich immer mehr in interne Streitigkeiten verwickelt, hat Russland trotz aller Widrigkeiten, die ein hybrider Krieg nach sich zieht, die Möglichkeit zu dem, was Dmitri Trenin «organische Entwicklung» der Gesellschaft nennt. Denn nach Trenin, gab es trotz aller Defizite, die der russische Staat aufweise, in der neueren russischen Geschichte kaum Zeiten, in denen die Bürger in derartigem (relativem) Wohlstand und Freiheit gelebt haben wie in den letzten zehn bis 15 Jahren.