Die Europäische Währungsunion befindet sich seit 2008 in einer Dauerkrise. Nicht alle Mitgliedsländer sind davon gleichermaßen betroffen — vielmehr ist hochgradige Unausgewogenheit ein Markenzeichen der Wirtschaftsentwicklung und eine besondere Bedrohung für den Weiterbestand der Währungsunion. Auch die vier großen Euroländer, Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien, haben unter dem Euro und speziell seit dem Ausbruch der Dauerkrise im Jahr 2008 eine sehr unterschiedliche Entwicklung erfahren.
Abbildung 24 zeigt die Wirtschaftsentwicklung der vier großen Eurostaaten, betrachtet relativ zum Basisjahr 2008. Seit 2008 sticht Deutschland innerhalb dieses Kreises als Land mit vermeintlich starker Entwicklung hervor, es ist sogar Spitzenreiter – und das, obwohl der Einbruch in 2009 in Deutschland besonders tief war.
Frankreich dagegen erzielte seit der Krise nur noch sehr geringes Wachstum. Die Lage in den beiden größten Ländern der Währungsunion hat sich somit umgekehrt: Vor der Krise galt Deutschland lange als „kranker Mann“, erzielte nur sehr kurze Aufschwünge von 1999 bis 2000 und von 2006 bis 2007, während Frankreich unter dem Euro zunächst eine sehr stetige und deutlich lebhaftere Entwicklung verzeichnete.
In Italien, das vor der Krise eine ähnlich schlechte Entwicklung wie Deutschland verbuchte, hat sich die Lage seither dramatisch weiter verschlechtert: Das Land steckt irgendwie fest, kommt nicht wieder in Gang, scheint in eine Falle getappt zu sein, aus der es sich bislang nicht befreien konnte.
Spanien wiederum erlebte ein rasantes Auf und Ab: erst einen langen Boom, dann der jähe Absturz, der wie in Italien den Verlauf einer Doppelrezession nahm. Seit ein paar Jahren verzeichnet das Land im Südwesten der Währungsunion gemessen an den offiziellen BIP-Zahlen wieder eine vergleichsweise starke Entwicklung. Allerdings bleibt die Arbeitslosigkeit weiterhin sehr hoch.
So verwundert es nicht, dass Deutschland aus dem Kreis der großen Euro-Mitgliedsländer heute in den Medien und in der Politik gemeinhin als Modell und Vorbild gepriesen wird, während Frankreich und Italien nach offizieller Lesart ihre Hausaufgaben nicht gemacht haben und daher, gänzlich selbst verschuldet, der Entwicklung hinterherhinken beziehungsweise auf der Stelle treten.
Mit den vermeintlich versäumten Hausaufgaben sind natürlich „Strukturreformen“ gemeint, konkreter: die dringend notwendige Liberalisierung des Arbeitsmarkts und das Zurückdrängen des Staats, welche für die Wiederherstellung der Wettbewerbsfähigkeit unumgänglich seien.
Selbst die globale Finanzkrise von 2007 bis 2009 und die immer noch nicht verarbeitete Eurokrise seit 2009 haben die wirtschaftspolitisch Verantwortlichen nicht zur Besinnung und zum Nachdenken anregen können. Europa hält unbeirrt weiterhin am Neoliberalismus fest.
Frankreich und Italien stehen aus dieser Sicht ihrem eigenen Glück im Weg, weil sie die Medizin der wundersamen Heilungskraft des Markts verweigern. Dies wird heute aus vermeintlich sachkundigen Mündern gebetsmühlenartig abgespult und von den Medien nachgebetet. Das folgende Zitat von François Villeroy de Galhau, Gouverneur der Banque de France, bringt den simplen Kern der Hypothese der anhaltenden Wirtschaftsschwäche aufgrund hinausgezögerter Strukturreformen sehr gut zum Ausdruck (Villeroy de Galhau 2017):
„Twenty-five years ago, we spoke of an ›Economic and Monetary Union‹. Since then, we have made a success of Monetary Union, but we have not been very effective with regard to Economic Union. The rather good economic performance in the euro area on average still conceals individual heterogeneities. And so, first and foremost, some countries, like France and Italy, need to accelerate domestic structural reforms to improve the functioning and flexibility of their economies. And let me be clear, it is in our national interest: we currently have lower economic growth and employment than some of our neighbors, such as Germany, Spain and the Netherlands, which have succeeded in carrying out the necessary reforms.”
Die Hypothese der anhaltenden Wirtschaftsschwäche aufgrund hinausgezögerter Strukturreformen entspricht natürlich dem üblichen Aberglauben der Mainstream-Wirtschaftstheorie, wonach man Märkte von allen „Rigiditäten“ befreien müsse, weil sie dann – immer und überall – schnellstes Wachstum und allgemeine Glückseligkeit ermöglichen würden. Wachsen Volkswirtschaften schneller als andere, dann liege das an den von ihnen erfolgreich umgesetzten Strukturreformen. Wachsen Volkswirtschaften langsamer, so liege das allein daran, dass sie dringende Strukturreformen immer noch nicht umgesetzt hätten.
Die intellektuelle Einfalt dieser Weltsicht ist beeindruckend, doch ihr Reiz für jene, die sich, womöglich aus politischem Kalkül, einfach der neoliberalen Hammelherde anschließen wollen, ist enorm.
Doch bevor wir im Folgenden eine Alternative darlegen, wollen wir zunächst die aktuelle Lage sowie einige historische Entwicklungen der vier großen Euro-Mitgliedsländer Revue passieren lassen.
Abbildung 25 zeigt die Wirtschaftsentwicklung der vier großen Euro-Mitgliedsländer seit 1980, betrachtet relativ zum Basisjahr 1999, dem Jahr der Euroeinführung. Alle zehn Jahre etwa gab es eine Rezession, aber ansonsten waren in den 1980er und 1990er Jahren für Deutschland, Frankreich und Italien recht ähnliche Entwicklungen zu verzeichnen.
Deutschland erlebte eine kurzfristige Wachstumsbeschleunigung in den Jahren um die deutsche Vereinigung, doch Frankreich holte im weiteren Verlauf der 1990er Jahre wieder auf. Insgesamt war auch Italiens Entwicklung während dieser Zeit nur wenig langsamer als in Deutschland und Frankreich. Spanien dagegen war der Europäischen Gemeinschaft erst 1986 beigetreten und erzielte bis 2009 einen erfolgreichen Aufholprozess und sehr langen Aufschwung. Die spanische Wachstumsbeschleunigung, die Mitte der 1980er Jahre einsetzte, konnte, abgesehen von der Rezession Anfang der 1990er Jahre, bis zur großen Krise aufrechterhalten werden.
Auch für die Zeit unter dem Euro zeigt sich für Deutschland und Frankreich insgesamt hier ein fast paralleler Verlauf der Entwicklung: Deutschland lahmte vor der großen Krise, Frankreich seither. Im Fall Spaniens hoffen optimistische Betrachter nunmehr auf eine Wiederaufnahme des von der tiefen Krise vielleicht nur unterbrochenen Aufholprozesses, während Italien – wie hier nochmals deutlich erkennbar – unter dem Euro auf dem Abstellgleis gelandet zu sein scheint.
Auch bei der Entwicklung der Pro-Kopf-Einkommen (in kaufkraftbereinigter Schätzung durch den IWF), die in Abbildung 26 für die Zeit seit 1980 zu sehen ist, zeigt sich, dass unter den drei alten Mitgliedsländern Deutschland bis 2005 nur einen leichten Vorspruch von rund fünf Prozent aufwies, während Spanien seinen deutlich größeren Rückstand sogar – vorübergehend – stark verringern konnte. Seit der großen Krise hat insbesondere Italien gegenüber Deutschland enorm verloren und liegt nunmehr gleichauf mit Spanien.
Aber auch Spanien und selbst Frankreich sind seither spürbar zurückgefallen. Es lässt sich daher leicht erahnen, warum Deutschland gemeinhin als Gewinner des Euro und der Eurokrise wahrgenommen wird und warum man sich im übrigen Europa als Verlierer ansieht.
Die höchst brisante ökonomische Spaltung innerhalb der Eurozone spiegelt sich auch in der Arbeitsmarktlage wieder: In Deutschland ist die Arbeitslosenrate heute so niedrig wie zuletzt vor der Rezession der frühen 1980er Jahre, ja, sogar niedriger als zu Zeiten des „Vereinigungsbooms“. In den anderen drei Ländern werden dagegen weiterhin historische Negativrekorde geschrieben. In Frankreich und Italien ist die Arbeitslosenrate in den letzten Jahren nur minimal zurückgegangen. In Spanien ist sie zwar deutlicher gefallen, aber ausgehend von einem extrem hohen Niveau.
Deutschland hatte traditionell eine niedrigere Arbeitslosenrate als die anderen drei Länder, was nur in den Zweitausendern bis zur großen Krise anders war. Damals stieg die Arbeitslosigkeit in Deutschland entgegen dem Trend in der übrigen Eurozone und überstieg das Niveau in den anderen drei großen Eurostaaten. Warum war Deutschland damals krank? Wie konnte Deutschland seitdem wie der Phönix aus der Asche wiederauferstehen – während andere Euroländer und die Eurozone insgesamt die Krise bis heute nicht hinter sich gelassen haben?
Die außergewöhnlich schlechte Wirtschaftsentwicklung in der Eurozone zeigt sich im internationalen Vergleich mit anderen entwickelten Ländern besonders bei der Betrachtung der Binnennachfrageentwicklung seit der großen Finanzkrise von 2009 (Abbildung 28). Die großen entwickelten Volkswirtschaften haben zwar überwiegend nach der globalen Krise nur eine unbefriedigende Entwicklung aufgewiesen, doch die Eurozone ist weit abgeschlagen, sie ist das internationale Schlusslicht. Die Eurozone schaffte es nach den offiziellen Zahlen erst 2016 wieder, den Vorkrisenstand bei der Binnennachfrage zu erreichen.
Das Bild der Gesamtlage ist eindeutig und lässt sich nicht glaubhaft schönreden: Die Wirtschaftspolitik der Eurozone hat ganz offensichtlich eklatant versagt.
Sofern man den Euro als Mittel begriffen hatte, gemeinsame Prosperität in Europa zu organisieren und zu sichern, so ist er zweifelsohne gescheitert. In der Tat haben politische und soziale Instabilitäten in fast allen Mitgliedsländern heute ein Ausmaß erreicht, das ein Auseinanderbrechen der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) als allemal möglich erscheinen lässt. Es ist daher keine Übertreibung, von einer wahren „Existenzkrise“ der EU zu sprechen. Wolfgang Münchau hat dies angemessen unverblümt mit Nennung der Hauptverantwortlichen formuliert (Financial Times, 27. März 2017):
„Beim Überwinden der Krise der Eurozone zu versagen, war einer der großen historischen Fehler des Nachkriegseuropas – das Erbe von Angela Merkel, Nicolas Sarkozy, François Hollande und all jenen, die in dieser Politikkatastrophe eine Rolle spielten. Es ist eine der Hauptursachen für den Aufstieg des Populismus. Es hat uns alle anfällig für zusätzliche Schocks gemacht. Der Austritt eines einzelnen Landes würde eine Finanzkrise von unvorstellbaren Proportionen entfalten.“
Quelle: Rubikon