Meinungsfreiheit nach dem Maidan: Kiews Krieg gegen kritische Journalisten

 

«Gibt es jetzt mehr Meinungsfreiheit in der Ukraine als unter Janukowytsch?», fragt der WDR4-Moderator einen Korrespondenten 2014 in Kiew. «Ich denke schon», antwortete der unsicher. Auch vier Jahre nach dem Maidan glaubt der Westen seine eigene Propaganda.

Der ukrainische Oppositionsjournalist und Blogger Ruslan Kotsaba ist schon wieder angeklagt, und seine Rechtsanwältin Tatjana Montjan versucht einmal mehr, die Absurdität der neuerlicher Anklage wegen Landesverrats gegen ihren Mandanten offenzulegen. Die ukrainische Führung will sich mit der straffreien Existenz von Dissidenten nicht abfinden und hat trotz des Freispruchs im Juli 2016 das Gerichtsverfahren gegen Kotsaba erneut aufrollen lassen. Um die Aufmerksamkeit der EU auf diese augenscheinliche und bewusste Missachtung der Meinungsfreiheit zu lenken, hielten Ruslan und Tatjana Ende September eine Rede vor dem Europäischen Parlament.

«Die Ukraine ist ein repressiver Staat geworden», sagte Tatjana Montjan.

Inwiefern entsprechen ihre Worte der Wahrheit?

Im Westen herrscht nach wie vor die Meinung vor, dass der «Euromaidan» eine demokratische Protestbewegung war, die Unzufriedenheit mit politischer Repression und dem Druck auf Andersgesinnte zum Ausdruck brachte. So gab es bereits gegen Leonid Kutschma, den zweiten Präsidenten der Ukraine, den Vorwurf, er habe 2002 den Befehl gegeben, den Journalisten Georgij Gongadse zu beseitigen. Wiktor Janukowytsch und seine Partei wiederum sollen Gerichtsprozesse gegen Julia Timoschenko und Jurij Luzenko organisiert haben.

Nachdem Julia Timoschenko im Gefängnis gelandet war, begannen die westlichen Staaten, die Regierung in Kiew unter Druck zu setzen. Die europäischen Politiker hörten auf, Janukowytsch in ihre Staaten einzuladen, gleichzeitig verzichteten sie darauf, die Ukraine selbst zu besuchen. Als im Herbst 2013 die Protestbewegung in Kiew Platz griff, quittierten westliche Medien diese ausschließlich mit positiven Artikeln, während sie gleichzeitig bemüht waren, die Regierung Janukowytsch als Feinde der Meinungsfreiheit darzustellen. Aber dann ist etwas schiefgelaufen.

Was jetzt «Revolution der Würde» genannt wird, verkaufte sich als Projekt für eine offene Gesellschaft, für Meinungs-, Gedanken-, Versammlungs- und Willensfreiheit. Und sich an all dem zu orientieren, behauptet bekanntlich auch die Europäische Union beharrlich von sich. Und doch bedienten sich die Protagonisten der Proteste, die von Anfang an als «friedlich» dargestellt wurden, immer häufiger Mittel, die sich bei bestem Willen nicht mehr als friedlich darstellen ließen.

Drohungen gegen Familien der Gegner

Da waren sehr seltsame und gefährliche Aktionen zu verzeichnen. Im Laufe der Konfrontation mit der Polizei, begannen die Demonstranten, Listen zu erstellen und zu veröffentlichen, um die Moral der Ordnungshüter zu beeinflussen. Die Liste umfassten private Informationen, deren Veröffentlichung durch die Verfassung und Gesetze der Ukraine verboten ist. Die Listen enthielten auch die Namen von Ehefrauen und Kindern von Polizisten mit deren Fotos, Privatadressen und Telefonnummern.

Nach dem Staatsstreich setzten die Sieger dieselben Techniken gegen diejenigen ein, die den immerhin demokratisch gewählten Janukowytsch unterstützten. Und sie richteten diese gegen all jene Journalisten und Blogger, die gegen den «Maidan» waren. In der Zeit vom 20. bis 22. Februar erlebte die Ukraine einen Machtwechsel, während Janukowytsch und mehrere Regierungsmitglieder flohen. Schon am 24. Februar veröffentlichte die größte Website der Putschisten, die Ukrainiska Prawda, die erste schwarze Liste, die diejenigen umfasste, die den «Maidan» kritisierten.

Die Autoren der schwarzen Liste wandten sich an die neue Regierung mit der Forderung, Andersdenkende wie den Politologen Michail Pogrebinski, den Schriftsteller Olesja Busina, Journalisten wie Wjatscheslaw Pichowschek, Alexander Tschalenko, Vladimir Skatschkow, Maxim Rawreba zur Persona non grata in der ukrainischen Medienlandschaft zu erklären.

Oppositionelle für vogelfrei erklärt

Sie erklärten auch, was sie unter Persona non grata verstehen. Das bedeutete, dass diese Personen nicht angestellt und interviewt werden dürften. Man sollte sich auch auf sie nicht berufen und sie nirgendwo erwähnen. Das war kein bloßer übereifriger Ausbruch seitens der «Aktivisten». Tatsächlich wurden alle Genannten, die den Gewinnern des Maidan als unbequem erschienen, seither zum Teil mehrfach angegriffen und inhaftiert.

Der Schriftsteller Oles Busina, der auf der ersten schwarzen Liste stand, wurde sogar im April 2015 im Hof ​​seines Hauses getötet. Die Journalisten Alexander Tschalenko und Maxim Rawreba flohen zusammen mit ihren Familien aus der Ukraine.

Aber das war nur der Anfang. Im Frühling und Sommer 2014, als der Bürgerkrieg ausbrach, wurde die Repression gegen Dissidenten nicht mehr dadurch gerechtfertigt, dass sie gegen den «Maidan» waren. Seitdem bemüht die Führung in der Ukraine die Begriffe «Separatisten», «Agenten des Kremls» und «fünfte Kolonne». Unabhängig davon, wer die Dissidenten sind, die gelenkte Öffentlichkeit erklärte sie sofort zu «ausländischen Spionen».

Mithilfe der neuen Regierung und der höchsten Staatsbeamten entstand in der Ukraine eine regelrechte Hexenjagd. Mit dem Ziel der Einschüchterung der Opposition gründete der Apparat des Innenministers die berüchtigte Webseite «Mirotworez», auf der jedermann kritische Mitmenschen mit Angabe der Hausadresse und Telefonnummer eintragen konnte.

Im Donbass sahen sich zahlreiche Menschen auf Grund ihrer Erwähnung auf der Seite Repressionen ausgesetzt, auch der Mord am Schriftsteller Oles Busina weist mit hoher Wahrscheinlichkeit einen ursächlichen Zusammenhang mit einer Diffamierung seiner Person auf Mirotworez auf. Diese Seite existiert bis jetzt und wird stetig mit den Namen neuer Personen ergänzt.

Putschisten erheben Vorwurf des Staatsstreichs

Die Repression infolge des Maidan begann mit einer Massenprotestbewegung im Süden und Osten der Ukraine, die als der «Russische Frühling» bekannt ist. In Charkow, Saporoschje, Dnjepropetrowsk und Odessa wurden sowohl Demonstranten als auch Journalisten und Blogger verhaftet, die diese unterstützten. Gegen sie erhob die Staatsanwaltschaft Anklagen wegen eines angeblichen Angriffs auf territoriale Integrität und Aufrufen zum gewaltsamen Umsturz. Und das, obwohl der «Maidan» selbst ein gewaltsamer Staatsstreich war.

Aber 2014 waren die aktiven Kämpfe noch im Gange. Die neue Regierung war dabei, den Krieg zu verlieren, es ging um ihre eigene Existenz. Nach dem Minsker Waffenstillstand, als die militärische Bedrohung für die Regierung in Kiew wegfiel, hatte sie in Bezug auf die innere Bedrohung freie Hand.

Im Februar 2015 verhafteten die Sicherheitskräfte den Journalisten Ruslan Kotsaba, nachdem dieser auf seinem Blog öffentlich Protest gegen die seiner Meinung nach illegale Mobilisierung gegen die Aufständischen in der Ostuktraine geäußert hatte. Man warf ihm Hochverrat vor. Er verbrachte ein ganzes Jahr im Gefängnis. Das Gericht griff sogar zu einer List, um ihn verurteilen zu können. Kotsaba war der erste Oppositionsjournalist, der sogar von westlichen NGOs wie Amnesty International offiziell als «Gewissensgefangener» anerkannt wurde. Ein Jahr später wurde Kotsaba unter dem Druck der internationalen Gemeinschaft und sogar von EU-Beamten in allen Punkten für unschuldig erklärt. Aber im Juni 2017 leitete die Staatsanwaltschaft erneut ein Verfahren gegen Kotsaba ein und jetzt ist der Journalist wieder ein Angeklagter.

Anders die mutmaßlichen Mörder von Oles Busina: Die Behörden nahmen kurz Tatverdächtige fest, ließen diese aber nach einer kurzen Ermittlung wieder frei. Dabei hatten diese nicht nur versucht, ihre Beteiligung an dem Verbrechen zu verbergen, sondern sich im Gegenteil sogar mit der Tat gebrüstet.

St. Georgs-Bänder sind staatsgefährdend

Im August 2016 leitete der ukrainische Sicherheitsrat SBU die Verfolgung einer beliebten Bloggerin, Miroslava Berdnik, ein. Ihr wurde die «anti-ukrainische Propaganda» auf ihrem Blog bei LiveJournal vorgeworfen. Die SBU-Mitarbeiter verstehen unter «Propaganda» in diesem Zusammenhang historische Artikel, in denen Berdnik über die Rolle der ukrainischen Nationalisten und ihres Anführers Stepan Bandera im Zweiten Weltkrieg schrieb. Die Geheimdienste durchsuchten ihre Wohnung und zeigten Sankt-Georgs-Bänder als Schuldbeweise gegen die Bloggerin vor. Sie beschlagnahmten auch die Computer von Miroslava Berdnik.

Mit dem St. Georgs-Band ist übrigens mittlerweile auch ein altes und traditionelles Symbol der russischen, ukrainischen und sowjetischen Armeen, das von den Rebellen im Donbass als Kennzeichnung verwendet wurde, in der Ukraine infolge eines Parlamentsbeschlusses verboten. Seine öffentliche Zurschaustellung wird mit Geldstrafe belegt.

Gleichzeitig dient es als eine Art unwiderlegbaren Schuldbeweises gegen Andersdenkende. Gerade wegen dieses Bandes wurde im September 2017 der Journalist Pavel Wolkow vom SBU in Saporoschje verhaftet. Der bei der Hausdurchsuchung gefundene Computer, der mit St.-Georgs-Bändern verziert war, wurde als ein Beweisgegenstand vorgelegt. Nun dient ein Computer mit einem St.-Georg-Band als Schuldbeweis.

Im September nahmen die Sicherheitsbehörden ebenfalls in Saporoschje Wasilij Murawitskij fest. Er wurde im Geburtshaus verhaftet, als er seine Frau abholen wollte, die kurz zuvor ein Kind zur Welt gebracht hatte. Der Blogger und Journalist wurde offiziell des Hochverrats angeklagt. Seine Arbeit bei Rossija Segodnja diente als Schuldbeweis. Zwar befindet sich die Ukraine nicht im Krieg mit Russland und es bestehen nach wie vor Visumsfreiheit und der Vertrag über die strategische Partnerschaft zwischen beiden Ländern. Aber das hielt die Führung in Kiew nicht davon ab, ihn festnehmen zu lassen. Murawitskij sitzt nach wie vor im Gefängnis. Ihm drohen bis zu 15 Jahre Haft.

Am 28. September erschütterte die Öffentlichkeit das Urteil über die Journalisten Dmitri Vasilets und Jewgeni Timonin, die 2015 verhaftet worden waren. Im Jahr 2017 wurden beide wegen Hochverrats und Untzerstützung des Terrorismus zu neun Jahren Gefängnis verurteilt. Alles nur, weil sie während der Kämpfe im Donbass vor Ort waren und die Situation dort beleuchteten.

Verhaftungen und Einreiseverbote gegen Regierungskritiker

Seit 2014 wird auch der Journalist Igor Guzhwa verfolgt, der Chefredakteur der Informationsportale vesti.ua, später strana.ua. Vor drei Jahren beschuldigte man ihn des Hochverrats. Später versuchte die ukrainische Führung ihn für Steuerhinterziehung und Vorteilsnahme zur Verantwortung zu ziehen.

Aber nicht nur ukrainische Journalisten werden ins Visier genommen. Auch ausländische Journalisten, die zufällig in der Kriegszone waren und den Krieg auf beiden Seiten beleuchteten, bekamen ihren Eintrag auf der Hetzseite Mirotworez, die vom offiziellen Kiew unterstützt wird. Russische Journalisten werden ungestraft entführt, festgenommen und abgeschoben.

Aber auch auf Europäer hat das Vorgehen der postmaidanen Nomenklatura Auswirkungen. Der letzte Fall in diesem Zusammenhang datiert auf den August, als die spanischen Journalisten Antonio Pampliega und Manuel Ángel Sastre aus der Ukraine abgeschoben wurden. Der deutsche Journalist Ulrich Heyden wurde nach seinem Film «Lauffeuer» über die Tragödie am 2. Mai in Odessa in die Datenbank von Mirotworez eingetragen. Seither gilt gegen ihn ein Einreiseverbot in der Ukraine.

Es ist unbestreitbar, dass oppositionelle Journalisten in der Ukraine verfolgt werden. Dies geschieht unter dem Deckmantel des vermeintlichen unerklärten Krieges und der angeblichen Bedrohung durch Russland, mit dem der Vertrag über die strategische Partnerschaft jedoch stillschweigend verlängert wurde und mit dem die Ukraine auch noch Visafreiheit pflegt. Leider hat der Westen, der den Maidan und den Sturz von Janukowytsch unterstützte, mittlerweile augenscheinlich kein Interesse mehr an der Frage der Meinungsfreiheit in der Ukraine. Es gibt gute Gründe, anzunehmen, dass sich auch nach dem Auftritt der ukrainischen Opposition im Europäischen Parlament kaum etwas ändern wird.

 

 

Quelle: RT