Lücke im System: Russisches „Raketenhirn“ kommt mit flotten Zielen nicht klar

Der Einsatzbereich der russischen Iskander-Rakete ist erweitert worden. Unter dem Namen „Kinschal“ kann diese Lenkwaffe jetzt auch Seeziele bekämpfen – mit einem klitzekleinen Aber: nur unbewegliche Seeziele. Diese Einschränkung offenbart eines der größten Probleme der russischen Raketentechnik.

 

 

Was von der Iskander-Rakete ursprünglich gefordert wurde, das kann sie auch sehr gut. Eine Lenkwaffe müsse sie sein, die mit hoher Präzision gegen stationäre Bodenziele eingesetzt werden könne, lautete die Vorgabe bei der Entwicklung. Von der Bekämpfung von Kampfschiffen war keine Rede.

Nun wurde die Lenkwaffe modifiziert: „Die Einsatzmöglichkeiten des operativ-taktischen Raketensystems Iskander-M sind erweitert worden. Es kann nunmehr nicht nur Boden-, sondern auch unbewegliche Seeziele zerstören, Schiffe auf Reede zum Beispiel“, sagte eine mit dem Vorgang vertraute Quelle.

Die modifizierte Version hört auf den Namen „Kinschal“, der bereits bekannt sein dürfte: eine in den Medien als „Schiffskiller“ präsentierte luftgestützte Hyperschallrakete, die von einer MiG-31 abgefeuert wird.

Die russischen Luft- und Weltraumstreitkräfte haben in einem kürzlich veröffentlichten Video den Einsatz von „Kinschal“ bei einem Manöver gezeigt: Eine MiG-31 startete mit einer solchen Rakete am Rumpf von einem Flugplatz und feuerte den Flugkörper in großer Höhe ab. Ein Tu-22-Bomber, mit einem anderen Marschflugkörper bewaffnet, begleitete die MiG.

Das Manöver sei „gemeinsam mit den Crews der Fernfliegerkräfte“ durchgeführt worden, wobei der Beschuss von „Boden- und Seezielen“ trainiert worden sei, hieß es aus dem russischen Verteidigungsministerium dazu.

Auch Militärexperten bestätigen, dass die „Kinschal“-Rakete zur Bekämpfung von Seezielen geeignet, ja gedacht sei. Nur ist da eben dieser Haken, dass Seeziele – mit Ausnahme von Ölplattformen vielleicht – sich meistens bewegen. Eine Waffe zu bauen, die allein gegen stehende Objekte eingesetzt werden kann, rechtfertigt den Aufwand nicht.

Der Hauptauftrag der „Kinschal“-Rakete sei es, „mit Marschflugkörpern bewaffnete Zerstörer und Kreuzer oder sogar Flugzeugträger zu bekämpfen“, sagt der Militärexperte Alexej Leonkow. Mit diesem Flugkörper könne etwa verhindert werden, dass der Gegner seine Flotte in Stellung bringt, um russisches Gebiet anzugreifen.

Dass die Rakete getestet wird, könnte ein Anzeichen dafür sein, dass die „Kinschal“ auch auf die Bekämpfung fahrender Seeziele vorbereitet wird. Der Militärexperte Anton Lawrow hatte früher bereits gemutmaßt, die neue Lenkwaffe sei vor allem gegen Flugzeugträger gerichtet: „Das ist deren maximaler Nutzen. Angriffe von Marschflugkörpern abzuwehren, ist für uns auch ohne Hyperschall unproblematisch. Flugzeugträger sind für uns das größere Problem.“

Ein Problem sind sie vielleicht auch deshalb, weil in Russland – wenn man nur von den öffentlich verfügbaren Informationen ausgeht – ein Zielführungssystem für solche Raketen wie „Kinschal“ bislang entweder gänzlich fehlte oder erst am Anfang der Entwicklung steht.

Eine Rakete ist für sich genommen ja nur eine Faust, die das Ziel möglichst präzise treffen muss. Und wenn es sich nun mal bewegt, können dessen Koordinaten nicht einfach ins „Raketenhirn“ eingespeichert werden – ein aktives System muss das Zielobjekt verfolgen und die Info in Echtzeit an die Rakete senden.

Womöglich verfügen die russischen Streitkräfte über entsprechende Ortungssatelliten. Ein russischer TV-Sender berichtete noch 2015, dass die Satellitengruppe des russischen Militärs im Erdorbit inzwischen 140 Einheiten zähle.

Zwei Jahre zuvor war berichtet worden, die russische Raumfahrtagentur Roskomos und das Verteidigungsministerium hätten den Aufbau eines Verbandes von Aufklärungs- und Zielführungssatelliten abgeschlossen. „Liana“ heißt das System, das aus zwei Satellitentandems besteht.

Ein Tandem – Codename „Lotos“ – ist allein mit der Funkaufklärung befasst, das andere Tandem – Codenamen „Pion“ – überwacht Truppen- und Technikbewegungen auf der Erde: zu Wasser, zu Lande und in der Luft. Ein Rechenzentrum wertet die Daten aus und leitet sie an die Kommandozentrale weiter.

Soweit die Theorie. Ob und inwiefern dieses System einsatzbereit ist, darüber ist nichts bekannt. Aber Zweifel, dass nur zwei Satellitentandems im Erdorbit eine Zielführung in Echtzeit bewerkstelligen können, sind schon angemessen.

„Mit der Bekämpfung stationärer Ziele läuft bei uns alles glatt. Aber versuchen Sie mal einen Toyota-Pickup von Dschihadisten zu treffen, der durch die Wüste rast. Unser Militär und unsere Rüstungsindustrie müssen noch etliche Systeme zu beherrschen lernen, die sowohl bewegliche als auch bedingt ortbare Ziele bekämpfen können“, sagte ein Spezialist aus dem russischen Verteidigungsministerium.

Es gibt noch einen Umstand, den man nicht einfach ignorieren kann. Wenn ein amerikanischer Flugzeugträgerverband eine „Kinschal“-Attacke ausmacht, wird er binnen kürzester Zeit unzählige Täuschkörper um das Flaggschiff herum auffahren.

Eine „Kinschal“-Rakete wird ihre Schwierigkeiten damit haben, das echte Ziel dahinter zu identifizieren. Das heißt, der Angriff mit einem einzigen Flugkörper wird allerhöchstens verpuffen – um einen Flugzeugträger sicher zu treffen, muss ein ganzer Raketenschwarm ins Ziel abgefeuert werden.

Und überhaupt: Von der „Zerstörung“ eines Flugzeugträgers sprechen Fachleute ungern, diese Mission ist aus Profi-Sicht „impossible“. Sie benutzen eher den Ausdruck „außer Gefecht setzen“. Wenn nur das gelingt, ist schon eine ganze Menge erreicht.

„Wenn solche Ziele wie Flugzeugträger wirklich zerstört werden können, dann nur mit speziellen Flugkörpern mit atomaren Gefechtsköpfen“, sagt Sergej Denissenzew vom Zentrum für Strategie- und Technologieanalysen (AST). „Sollten wir in einem Krieg Flugzeugträger versenken müssen, dann sicherlich nicht durch Iskander- und Kinschal-Raketen.“

Die Iskander sei ursprünglich als Waffe gegen unbewegliche Bodenziele entwickelt worden „Sollen bewegliche Ziele bekämpft werden, müssen aktive Radarsuchköpfe in die Raketen integriert werden. Das macht das Ganze schwieriger“, so der Experte.

Was noch getan werden muss, damit die „Kinschal“-Raketen vollwertig eingesetzt werden können, erklärt Experte Leonkow: „Die Zielführung muss entweder mittels Satelliten oder aus der Luft erfolgen.“

Kleinere Satelliten könnten mit ballistischen Raketen in den Weltraum gebracht werden, die von dort aus „30 bis 50 Tage lang“ ein bestimmtes Gebiet überwachen. „Wenn sie die gegnerische Flotte entdecken, führen sie die ‚Kinschal‘ in das Gebiet, wo sie selbstständig ins Ziel findet.“

Auch luftgestützte Technik komme in Frage. „Die Aufklärungsflugzeuge müssen so ausgestattet sein, dass sie in den Kampfbereich der Marine nicht hineinfliegen müssen. Das Frühwarnflugzeug A-100 wäre so eine Maschine“, so Leonkow.

Dieses Flugzeug kann Marineverbände aus bis zu 600 Kilometern Entfernung orten. „Doch die A-100 hat erst im November letzten Jahres ihren Erstflug absolviert.“ Es wird also noch eine Zeit lang dauern, bis die russischen Luft- und Weltraumstreitkräfte diese Maschine in Dienst nehmen können.

Zu Sowjetzeiten erledigte die Tu-95RZ – eine Aufklärungs- und Zielführungsmaschine auf der Basis des Tu-95-Bombers – diesen Job. Doch sind diese Flugzeuge längst verschrottet.

Deshalb ist wohl objektiv zu sagen: Ja, Russland verfügt über neue leistungsfähige Raketen. Die Nato hat bereits erklärt, die „Iskander“- und „Kinschal“-Raketen als eine Gefahr anzusehen. Noch gibt es aber keinerlei Sicherheit, dass diese Flugkörper die für Russland relevanten Seeziele – die Flugzeugträger der USA – bekämpfen können.

 

Quelle: Sputnik 

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