Die Entwicklung der nuklearen Abschreckung beschreibt die aktuelle Ausgabe der Zeitschrift „WeltTrends“ (Nummer 142). Darin stellt Lutz Kleinwächter fest: Die Angst vor den Folgen eines Atomkrieges hat genau diesen verhindert. Er schreibt: Im Kalten Krieg hat keine der beiden Seiten den tatsächlichen Einsatz von Nuklearwaffen geplant.
von Tilo Gräser
Ein Atomkrieg hat bisher nie gedroht. Das schreibt der Politikwissenschaftler Lutz Kleinwächter in einem Beitrag im August-Heft der Zeitschrift „WeltTrends“. „Eine direkte ‚aktive Nuklearkriegsbedrohung‘ bei praktischer Vorbereitung eines atomaren Angriffskrieges war bislang kein Ziel irgendeiner Staatsführung.“
Die politischen Gegner des Kalten Krieges hätten die angebliche Gefahr durch die andere Seite aufgebauscht, „um die eigene System- und staatliche existenzielle Sicherheit von außen militärisch nicht infrage stellen zu lassen. Bedrohungslegenden wurden primär als Disziplinierungsinstrument der Innenpolitik eingesetzt, waren aber keine äußere Realität.“
Realpolitik entscheidend
Laut Kleinwächter gehen alle Studien, Kriegsplanungen, „journalistische Aufblähungen, Geschichten, Märchen, (Science) Fiction“ zum Thema „am Wesen, an der Realität eines nicht gewollten und nicht stattfindenden Kernwaffenkrieges vorbei“.
„Entscheidend ist nicht, was Militärtheoretiker, Wissenschaftler und Medienvertreter artikulieren, sondern letztlich die Realpolitik, das praktische Handeln der politischen und militärischen Führungen. Egal wie zugespitzt die Beziehungen waren, wie heiß der Kalte Krieg war, in extremen Krisen zwischen den Kernwaffenmächten wurde verhandelt, die Atomwaffe aber nicht (wieder) eingesetzt.“
Er belegt das mit „Schlüsselereignissen“, beginnend mit den US-Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki im August 1945. „Der Einsatz löste einen Zivilisationsschock aus, der seitdem an Wirkung eher zugenommen hat.“ Und: „Die Möglichkeit einer nuklearen Auslöschung (großer Teile) der menschlichen Zivilisation rückte dauerhaft in das Handlungsbewusstsein der Eliten.“
Strategie gewechselt
Die USA hätten versucht, mit Kernwaffen die sowjetische Überlegenheit im konventionellen Bereich nach dem 2. Weltkrieg auszugleichen. Der Politikwissenschaftler meint: „Sie verfolgten eine Politik des ‚Containment‘, keine militärische ‚Roll-Back‘-Strategie. Die Eindämmung des sowjetischen Machtbereichs und die Abgrenzung der gegenseitigen Interessensphären bei einer bipolaren Weltaufteilung standen im Zentrum. Es ging nicht um einen offensiven militärischen Systemwechsel.“
1949/50 hatte die Sowjetunion mit Atom- und Wasserstoffbombentests das US-Monopol im nuklearen Bereich gebrochen. Daraufhin erfolgte laut Kleinwächter bei USA und Nato ein Wechsel der Strategie, von der Vergeltung durch einen massiven Gegenschlag hin zur kriegsverhindernden Abschreckung. 1954 hätten der damalige sowjetische Ministerpräsident Georgi Malenkow und US-Präsident Dwight D. Eisenhower sinngleich erklärt, dass ein neuer Weltkrieg den „Ruin der Weltzivilisation“ bedeuten würde. Das „selbstmörderische Eskalationsrisiko“ sei als zu groß eingeschätzt worden.
Die Erkenntnis über die katastrophalen Folgen eines Kernwaffenkrieges seien aber durch „gegenseitige politisch-ideologische Unterstellungen von Angriffsvorbereitungen“ konterkariert worden. Selbst die diskutierten Varianten eines regional begrenzten Atomkrieges haben laut dem Politologen „keinen nachweisbaren Eingang in die praktische politische Entscheidungsfindung der westlichen wie östlichen Führungen“ gefunden.
„Rotes Telefon“ eingerichtet
Während des Koreakrieges von 1951 bis 1953 habe US-Präsident Harry S. Truman trotz der nuklearen Dominanz der USA einen Krieg gegen China und die Sowjetunion abgelehnt. Als der kommandierende US-General Douglas MacArthur den Atomwaffeneinsatz forderte, sei er abgelöst worden, erinnert Kleinwächter. 1954 habe Eisenhower den Einsatz von „Baby-Atombomben“, um Frankreichs Krieg in Indochina zu unterstützen, abgelehnt.
Kleinwächter verweist auch auf die Kuba-Krise 1962, als die Sowjetunion zur Abschreckung nuklear bestückbare Raketen auf Kuba stationierte. Das geschah als Antwort auf die Stationierung von US-Nuklear-Mittelstreckenraketen in der Türkei und Italien. In der US-Führung sei auch über eine nukleare Eskalation debattiert worden. Die Gruppe um Präsident John F. Kennedy habe sich aber dagegen ausgesprochen und durchgesetzt.
„In diesem Gesamtzusammenhang einigten sich die USA und die Sowjetunion, keine Raketenkernwaffen an die Bundesrepublik respektive China zu übergeben.“ Deshalb kam es laut dem Autor zum sowjetisch-chinesischen Bruch, und China testete 1964 eigene Kernwaffen. Darüber hinaus hätten die USA und die Sowjetunion 1963 eine direkte Nachrichtenverbindung für den „Notstand“ eingerichtet – das „Rote Telefon“.
Abschreckung übermächtig
Bis etwa 1968 hätten sich auf beiden Seiten die Befürworter einer atomaren Abrüstung nicht gegen die Hardliner durchsetzen können. „Die quantitative und qualitative Hochrüstung eskalierte in den 1960er Jahren und schuf gigantische nuklearstrategische ‚Overkill‘-Kapazitäten.“ Deshalb habe Verteidigungsminister Robert McNamara 1967 von der „gegenseitig gesicherten Zerstörung“ gesprochen. „Damit wurde die passive ‚Abschreckung‘ übermächtig sowie die gegenseitige aktive ‚Bedrohung‘ unglaubwürdig und militärpolitisch wirkungslos“, meint Kleinwächter.
Das habe unter anderem in Washington wie in Moskau zum Beginn von Abrüstungsverhandlungen, dem Atomteststoppabkommen (1963) und dem Atomwaffensperrvertrag (1968) geführt. Allerdings sei der Versuch gescheitert, eine weitere Verbreitung der Atomwaffen zu verhindern. Die Zahl der Staaten, die sie entwickelten und besitzen, erhöhte sich – um Israel, Indien, Pakistan und Nordkorea. „Bei diesen ‚neuen kleinen‘ Nuklearstaaten ist eine regionale ‚Abschreckung‘ zum vermeintlichen Selbstschutz sowie als Verhandlungstrumpf zentrale Funktion ihrer Kernwaffen.“
Mit Beginn der 1970er Jahre habe unter US-Präsident Richard Nixon und Leonid Breschnew in Moskau eine „widersprüchliche Entspannungsphase“ begonnen. „Die ‚Containment‘-Politik wurde aufgegeben, und beide Seiten bekundeten 1972, dass ‚es im Atomzeitalter keine Alternative zur Basis der friedlichen Koexistenz für ihre Beziehungen gibt‘.“ Das habe sich im Folgejahrzehnt fortgesetzt. Der Autor erinnert dabei an die ALT- und die START-Verhandlungen ebenso wie an die von US-Präsident Ronald Reagan und KPdSU-Generalsekretär Michail Gorbatschow vereinbarte nukleare Rüstungsreduzierung und den INF-Vertrag.
Zufälliger Atomangriff unmöglich
Kleinwächter meint, dass der „nuklearmilitärische Faktor“ bei der vom derzeitigen US-Präsidenten Donald Trump angestrebten neuen Weltmachtrolle der USA nur eine „untergeordnete Rolle“ spielt. Trump wolle verhindern, dass weitere Staaten in den Besitz von Kernwaffen gelangen.
„In der jüngsten Propagandakampagne ist die irrige ‚Kalte-Kriegs-Legende vom Roten (Atom-)Knopf‘ öffentlich geworden. Im schwarzen Koffer des Präsidenten befindet sich das ‚Black Book‘, seit Präsident Carter eine Seite mit Handlungsoptionen sowie Codes, an denen sich der Präsident orientieren und gemeinsam mit der US-Militärführung den Nukleareinsatz einleiten könnte. Durch Zufall, individuelle Schwächen oder Ähnliches findet kein Atomangriff statt.“
Der Autor hebt hervor, eine „aktive nukleare Bedrohung“, eine „aktiv betriebene, reale militärische Systembedrohung zwischen den USA und der Sowjetunion, zwischen Nato und Warschauer Pakt, hat es im Kalten Krieg nicht gegeben. Das Vehikel der gegenseitigen ‚passiven nuklearstrategischen Abschreckung‘ und eine beidseitige dominante Realpolitik funktionierten.“ Das gelte bis heute.
Vernichtung droht weiter
Er warnt aber auch: „Die Problematik hat sich durch den nicht aufhaltbaren Prozess der Weiterverbreitung der zivilen (militärisch nutzbaren) Nukleartechnologien jedoch verkompliziert.“ Und: Die gegenseitige Androhung einer garantierten gänzlichen Vernichtung (mutual assured destruction – MAD) bleibe, „ohne Illusionen und im höchsten Grade, unkalkulierbar. Auf diese Konstante der Instabilität ist Verlass.“
In dem „WeltTrends“-Heft gibt auch der Politologe Wolfgang Schwarz einen historischen Abriss der nuklearen Abschreckung. Er stellt fest: „Spätestens seit dem erneuten offenen Ausbruch von Feindseligkeiten im Verhältnis zu Russland im Jahre 2014 ist sie wieder das sicherheitspolitische Leitkonzept des Westens.“
Militärwissenschaftler Wolfgang Scheler beschreibt in einem weiteren Beitrag die Abschreckungsdoktrin und das „Gesetz des Atomzeitalters“. Er macht auf die Initiative von Staaten, die keine Atomwaffen besitzen, für ein Verbot dieser Waffen aufmerksam. „Das System atomarer Abschreckung, das Atommächte noch immer mit riesigem Rüstungsaufwand aufrechterhalten, gefährdet das Überleben der menschlichen Gattung. Die Abschreckungsdoktrin missachtet das oberste Gesetz des Atomzeitalters.“ Dieses Gesetz verlange, „Abschreckung durch gemeinsame Sicherheit zu ersetzen. Sicherheit des Friedens kann nicht mehr in Konfrontation, sondern nur in Kooperation mit dem Gegner erreicht werden.“
Quelle: Sputnik