Nato gegen Russland: Die Zeit der Großmanöver

Inmitten sich verschärfender globaler Spannungen bereitet sich die Bundeswehr auf eine der größten NATO-Kriegsübungen seit dem Ende des Kalten Kriegs vor. Die Verlegung von 10.000 deutschen Soldaten mit schwerem Gerät nach Norwegen hat begonnen. Dort wird in Kürze das Manöver Trident Juncture 2018 mit über 40.000 Militärs und rund 10.000 Landfahrzeugen starten. Teil der Übung ist die abschließende Erprobung der NATO-«Speerspitze», die ab dem 1. Januar 2019 von Deutschland geführt wird. Szenario ist ein NATO-Krieg gegen einen «Angreifer», der nach Lage der Dinge nur Russland sein kann. Trident Juncture 2018 ist vorläufiger Höhepunkt einer ganzen Reihe gegen Moskau gerichteter westlicher Großmanöver. Moskau wiederum hat nach dem Urteil von Experten mit dem kürzlich beendeten Großmanöver Wostok 2018 bewiesen, dass ihm im Konfliktfall «enormer operativer Handlungsspielraum» zur Verfügung steht. Zugleich spitzt sich die Lage unter anderem mit US-Sanktionen gegen eine Abteilung von Chinas Verteidigungsministerium weiter in Richtung auf eine Weltkrise zu.

Zweitgrößte Kriegsübung seit 1990

Mit Hochdruck bereitet die NATO ihr Großmanöver Trident Juncture 2018 vor, das vom 25. Oktober bis zum 7. November in Norwegen durchgeführt werden soll. Die Kriegsübung ist die größte der NATO seit 2002 sowie die zweitgrößte seit dem Ende des Kalten Kriegs. Teilnehmen werden über 40.000 Soldaten — Militärs aus sämtlichen Bündnisstaaten, aber auch aus den offiziell noch neutralen Ländern Finnland und Schweden, die praktisch freilich längst als informelle Mitglieder des Kriegsbündnisses behandelt werden.[1] Trainiert wird ein «Artikel 5-Szenario», also der Fall, dass ein NATO-Mitglied von einem fremden Staat angegriffen wird. Nach Lage der Dinge kann der «Angreifer» in Norwegen lediglich Russland sein.[2] Laut Auskunft der Bundeswehr sind im Rahmen von Trident Juncture 2018 nicht zuletzt «grenzübergreifende Übüngstätigkeiten mit Schweden und Finnland geplant».[3] Trainiert wird mit annähernd 10.000 Landfahrzeugen aller Art, mehr als 130 Militärflugzeugen und 70 Kriegsschiffen. Neben einer «Volltruppenübung» unter klimatisch harten Bedingungen sind eine computergestützte Gefechtsstandübung im Joint Warfare Centre Stavanger sowie ein Marinemanöver unter deutscher Führung in der Ostsee vorgesehen. Die Übungspläne sind umfassend: Beim Marinemanöver etwa wird die Kooperation von Über- und Unterwassereinheiten mit Seepatrouillenflugzeugen und mit amphibischem Gerät erprobt.

Bundeswehr: Führend dabei

Die Bundeswehr stellt bei Trident Juncture 2018 mit rund 10.000 Soldaten ungefähr ein Viertel der beteiligten Militärs. Das Manöver ist der abschließende große Test für die NATO-«Speerspitze» (Very High Readiness Joint Task Force, VJTF), eine besonders schnell einsetzbare Eingreiftruppe, die ab 2019 für ein Jahr von den deutschen Streitkräften geführt wird. Die VJTF ist theoretisch überall auf der Welt einsetzbar, in der Praxis jedoch auf Operationen gegen Russland fokussiert; dies zeigt etwa der Aufbau einer Art Mini-Hauptquartiere, die das Kriegsbündnis in acht Staaten Ost- und Südosteuropas in größtmöglicher Nähe zu Russland unterhält. Sie sollen blitzschnelle Operationen der «Speerspitze» ermöglichen. Um ihre VJTF-Tauglichkeit unter Beweis zu stellen, will die Bundeswehr 30 Kampfpanzer vom Typ Leopard 2, 75 Schützenpanzer der Typen Marder und Boxer sowie zehn Panzerhaubitzen 2000 nach Norwegen bringen. Die Verlegung hat Ende August begonnen. Sie wird vom Logistikkommando der Bundeswehr organisiert und gilt in der Truppe als vollwertiges Übungselement. Ein Großteil wird über den Hafen in Emden abgewickelt, der als «besonders für das Anlegen von RoRo-Schiffen geeignet» gilt; bei letzteren handelt es sich laut Angaben der Bundeswehr um Schiffe, «die bewegliche Güter im Roll on Roll off-Verfahren transportieren», bei denen die Ladung also nicht auf das Schiff gehoben, sondern gefahren wird.[4] Emdens Hafen verfügt über mehrere Anlegestellen dafür; dies erlaubt ein größtmögliches Verlegetempo.

Manöver rings um Russland

Trident Juncture 2018 ist lediglich eines aus einer ganzen Reihe gegen Russland gerichteter Manöver, die in den vergangenen Monaten von der NATO oder den Vereinigten Staaten geführt wurden und an denen jeweils die Bundeswehr teilgenommen hat. So fand im Juni in der Ostsee mit rund 5.000 Soldaten das Manöver BaltOps 2018 statt. Ebenfalls im Juni trainierten rund 18.000 Militärs im Rahmen des Manövers Saber Strike Operationen im Baltikum.[5] Im Juli folgte mit der Kriegsübung Sea Breeze 2018 ein Manöver mit gut 3.000 Soldaten am Schwarzen Meer; Anfang August probten ebenfalls 3.000 Militärs Kriegsoperationen in Georgien.[6] In diesem Monat wurde schließlich in der westukrainischen Region Lwiw das Manöver Rapid Trident 2018 durchgeführt — als gemeinsame Kriegsübung der Ukraine und führender NATO-Staaten. Auch daran beteiligten sich Soldaten der Bundeswehr. Zum 1. Januar wird die Truppe dann offiziell die Führung der VJTF (NATO-«Speerspitze») übernehmen. Sie ist, wie ihre jüngsten Manöverteilnahmen zeigen, für Operationen aller Art gegen Russland bereit.

Moskau: «Enormer operativer Handlungsspielraum»

Russland wiederum hat soeben sein Großmanöver Wostok 2018 abgeschlossen — mutmaßlich das größte seit 1981. Beteiligt waren laut offiziellen Angaben 297.000 Militärs, die mit 36.000 Militärfahrzeugen, mehr als 1.000 Militärfliegern, -hubschraubern und -drohnen sowie 80 Kriegs- und Unterstützungsschiffen operierten. Experten halten die Angaben für womöglich übertrieben; doch selbst dann müsse man einräumen, erklärt ein Wissenschaftler von der dem schwedischen Verteidigungsministerium unterstellten Verteidigungsforschungsagentur FOI (Totalförsvarets Forskningsinstitut): «Was die wahre Zahl am Ende auch gewesen ist — Wostok war groß.»[7] Zwar habe das Manöver im Osten Russlands stattgefunden; doch gelinge es den russischen Streitkräften inzwischen offensichtlich, «innerhalb von etwa drei Wochen große Verbände Tausende Kilometer quer durch das Land zu verlegen», wird der FOI-Experte zitiert. Wegen der weitaus besseren Infrastruktur westlich des Urals sei davon auszugehen, dass sie dort ein noch viel höheres Tempo erreichen könnten. Auch habe der russische Generalstab im Rahmen des Manövers erstaunliche Führungsfähigkeiten bewiesen. «Fest steht», urteilt ein Spezialist, dass sich damit für die russische Regierung «im Falle einer Krise oder eines Konflikts enormer operativer Handlungsspielraum ergibt».[8]

Auf dem Weg zur Weltkrise

Dabei weitet sich der Konflikt zwischen dem Westen und Russland zunehmend zu einem globalen Machtkampf aus. An Wostok 2018 haben auch Truppen aus China teilgenommen. Experten weisen darauf hin, dass dies angesichts der zahlreichen Differenzen zwischen Moskau und Beijing alles anderes als selbstverständlich ist: So blickt Russland — militärisch stark, doch ökonomisch schwach — mit Argwohn auf das wirtschaftlich starke und militärisch immer schlagkräftiger werdende China, während etwa russische Waffenlieferungen an Chinas Rivalen Indien und Vietnam Beijing ein Dorn im Auge sind. Mit Blick auf den eskalierenden Handelskrieg zwischen der Volksrepublik und den Vereinigten Staaten urteilt nun aber etwa ein Experte von der S. Rajaratnam School of International Studies (RSIS) an der Nanyang Technological University in Singapur: «Die Neujustierung der globalen US-Strategie treibt China und Russland enger zusammen.»[9] Dazu dürfte auch beitragen, dass die Trump-Administration Ende vergangener Woche Sanktionen gegen eine Abteilung des chinesischen Verteidigungsministeriums verhängt hat — mit der Begründung, Beijing habe mit dem Kauf von Rüstungsgütern bei russischen Unternehmen gegen US-Sanktionen verstoßen. Beijing hat auf den beispiellosen Versuch, eines seiner nationalen Gesetze zu einem für sämtliche Staaten gültigen Weltgesetz zu erheben, mit scharfem Protest reagiert und in einem ersten Schritt die laufenden Kontaktgespräche zwischen den Militärs beider Länder auf Eis gelegt. Eine weitere Eskalation gewinnt mit den immer unverhohleneren Bestrebungen der Trump-Administration, den weltpolitischen Abstieg der Vereinigten Staaten mit blanker Gewaltpolitik zu verhindern, eine immer höhere Wahrscheinlichkeit. Berlin bereitet sich längst darauf vor.

Auf German Foreign Policy erschienen. Dort ist auch die Fußnotenleiste abrufbar.