Am 15. Juli 2016 scheiterte der Militärputsch in der Türkei und hat bis heute Konsequenzen. Sowohl innerhalb in der Türkei als auch auf die westlichen Bündnisse NATO und Europäische Union (EU). Vor allem der EU, die sich als erklärter Verfechter der Menschenrechte, der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sieht, hat nachhaltig an Ansehen in der Türkei verloren.
Aus dem Putschversuch im Jahre 2013 nichts gelernt
Zu diesem Schluss kommt auch Enes Guzel, der einen beachtlichen Gastbeitrag in der Istanbuler Tageszeitung Yeni Safak schrieb. Der Beitrag soll an den dritten Jahrestag des türkischen Putschversuches erinnern und geht gleichzeitig auf den gescheiterten Staatsstreich im Jahre 2013 ein.
«Es scheint, dass die Europäische Union (EU) Probleme hat, ihre Rhetorik mit ihren Handlungen in Einklang zu bringen. Nachdem es 2013, am 15. Juli 2016, gescheitert war, eine moralisch und ethisch gerechte Haltung für die Demokratie einzunehmen und den Staatsstreich gegen den ersten demokratisch gewählten Präsidenten in Ägypten abzulehnen, war der Putschversuch in der Türkei ein weiterer Lackmustest für die EU zu seinen erklärten Prinzipien stehen. Leider ist es noch einmal gescheitert», resümiert Guzel gleich zu Beginn des Beitrags, der in englischer Sprache auf dem Onlineauftritt von Yeni Safak abrufbar ist.
Nachdem jahrelang innerhalb in der EU das für und wider im Hinblick auf einen Türkei-Beitritt debattiert wurde, scheint langsam der Zug abgefahren zu sein. Denn inzwischen orientiert sich die Türkei an alternativen Bündnissen. Bemerkenswert im Hinblick auf den Putschversuch ist hierbei auch der mediale Umgang. Vergleichen wir die mediale Berichterstattung in westlichen Medien zwischen November 2015 und Juli 2016.
Knüpfen wir an den Abschuss der russichen Su-24 am 24. November 2015 durch die Türkei, die zu einer politischen Krise zwischen Russland und der Türkei führte und seitens Russland zu Sanktionen führte und zur Abschaffung der Visa-Freiheit für türkische Bürger nach Russland führte. Bis Juli 2016 war das Verhältnis zwischen Russland und der Türkei verstimmt und eine weitere militärische Eskalation war nicht ausgeschlossen. Bis dahin war der Westen nebst dem damaligen US-Präsidenten Barack Obama sowohl politisch und medial auf der Seite der Türkei.
Die Aussöhnung zwischen Erdogan und Putin und der plötzliche Putschversuch
Doch kurz nachdem sich das Verhältnis Ende Juni/Anfang Juli 2016 wieder entspannte und die Sanktionen seitens Russland wieder aufgehoben wurde, kam der Militärputsch Mitte Juli überraschend, aber in der Nachlese wenig überraschend. Doch wie ist der Putschversuch nochmal aus türkischer Sicht verlaufen?
«Während dieses Putschversuchs griffen FETO-Militärangehörige einige der Machtknotenpunkte in der Türkei an, wie das Parlament und andere öffentliche Institutionen sowie das Hauptquartier der Spezialeinheiten und den Geheimdienst. Panzer und Luftdüsen unter der Kontrolle der Putschisten eröffneten wahllos das Feuer auf die Menschen. Wie durch ein Wunder wurde der Putschversuch jedoch durch die entschlossene Haltung des türkischen Volkes vereitelt, das Entschlossenheit, Widerstand und Mut gegen die Putschisten zeigte. Durch diesen Widerstand kamen 246 türkische Staatsbürger ums Leben und rund 2.000 Menschen wurden verletzt. Dies war zwar ein schwerer Tribut, aber es sandte auch eine Botschaft an die ganze Welt, dass die Resolution des türkischen Volkes sich gegen jeden Versuch durchsetzen würde, die türkische Demokratie zu untergraben», schreibt Guzel, der stellvertretender Forscher am TRT World Research Center ist und sich derzeit mit dem Aufstieg der extremen Rechten in Europa und der Islamfeindlichkeit beschäftigt.
Als Drahtzieher wird der in den USA lebende Geistliche Fetullah Gülen gesehen, auf den sich FETO (Fetullah Gulen Terrorist Organization) bezieht. Präsident Recep Erdogan verlangte damals seine Auslieferung an die Türkei, die seitens Obama — wenig überraschend — abgelehnt wurde. Danach folgte eine massive Entlassungswelle im öffentlichen, militärischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Sektor. Sowohl die Entlassungswelle als auch die zahlreichen Verhaftungen waren für die westlichen Medien Anlass genug gewesen, um das Bild des «bösen Dikators» Erdogan wieder aufleben zu lassen. Nicht zuletzt, weil er sich auch in den letzten drei Jahren auch wieder gut mit dem anderen «bösen Diktator», Präsident Wladimir Putin, versteht.
Das Ergebnis sieht man vor allem am S-400-Deal, der seit Ende letzter Woche Wirklichkeit geworden ist. Dieser Deal wurde im Westen starkt kritisiert. Besonders von den USA, die nun auf ihren Patriot-Raketenabwehrsystemen sitzenbleiben und möglicherweise keine F-35 Kampfjets an die Türkei liefern werden. Bislang hält sich die Türkei mit einem potentiellen Austritt aus dem Nordatlantikpakt zurück. Doch inzwischen wird auch hierüber breit spekuliert. Möglich wäre eine Allianz mit Russland und Iran, die bereits als Garanten im Astana-Prozess über die Zukunft Syriens entscheiden, obgleich der Westen diesen Gesprächen wenig Bedeutung beimessen möchte.
Fehlende Solidarität, wenn es drauf ankommt
Doch der Grund weshalb das so ist, lässt sich leicht erklären: Die USA und ihre Verbündeten sitzen nicht am Verhandlungstisch, sondern sind nur als Beobachter doch gern gesehen. Doch bislang begründet die Türkei die Kaufentscheidung des S-400-Systems damit, dass man lediglich damit den eigenen Himmel verteidigen will und es daher keine Auswirkung auf die künftige Zusammenarbeit mit der NATO haben werde.
Und auch der angesprochene Beitrag vermeidet das Wort NATO und schießt sich auf die EU ein, die sich nicht solidarisch, im Gegenteil, eher sympathisch mit den Putschisten gegeben haben.
«Andererseits zeigten die westlichen Nationen, insbesondere die EU-Mitgliedstaaten, trotz der hohen Bedrohung der Demokratie und der gewählten Regierung ihrer Verbündeten keine ausreichende Unterstützung für die Türkei. Die EU-Mitgliedstaaten reagierten auf drei Arten: Die überwiegende Mehrheit von ihnen verfolgte eine abwartende Politik und zog es vor, zu schweigen, bis das Ergebnis des Putschversuchs offensichtlich wurde. Auf der anderen Seite unterstützten einige EU-Länder stillschweigend oder auf andere Weise die Putschisten, während die übrigen Regierungen sich dafür entschieden, gleichgültig zu sein, und das Ereignis insgesamt ignorierten»
Zwar sind die EU und die NATO nicht miteinander gleichzusetzen, aber dennoch muss man beachten, dass die meisten EU-Mitgliedstaaten gleichzeitig auch Mitglied in der NATO sind. Und betrachtet man die NATO-Osterweiterung, so war eine Mitgliedschaft in der NATO zugleich ein Türöffner für die (in den 2000er Jahren) attraktive EU, die beispielsweise für die baltischen Staaten anfangs einen Wirtschaftsaufschwung nach sich zogen. Seit spätestens 2015 ist die EU tief gespalten, nachdem zuvor die Eurokrise im Jahre 2012 zu einer Spaltung innerhalb des Westens führte. Die Gründe hierfür sind bekannt: Osteuropa will keine Flüchtlinge aufnehmen und in Westeuropa haben — wie auch in Osteuropa — deutlich an Zuspruch gewonnen.
Das lässt sich am Beispiel Deutschland gut veranschaulichen, wo die als rechtspopulistisch geltende Alternative für Deutschland AfD in alle Landtage und letztlich 2017 auch in den Bundestag eingezogen ist. Der Grund hierfür ist die liberale Asylpolitik der herrschenden Parteien. Und genau das — was für manchen Wähler rechter Parteien schwer zu glauben ist — kritisiert auch der Beitrag.
«Ein weiteres Thema, das einen Keil zwischen der Türkei und der EU darstellte, war das politische Asyl, das den Putschisten angeboten wurde. Trotz der mehrfachen Forderungen der Türkei nach Unterstützung ist Europa für viele FETO-Mitglieder leider ein sicherer Hafen geworden. Die Europäische Asylagentur (EASO) mit Sitz in Malta berichtete, dass nach dem Putschversuch im Juli 2016 51.225 FETO-Mitglieder in EU-Ländern Asyl beantragten. In einem von der Agentur erstellten Bericht wurde festgestellt, dass 6.500 FETO-Mitglieder Asylanträge bei den griechischen Behörden registriert haben, und es wurde darauf hingewiesen, dass dies neben Syrern, Afghanen und Irakern die größte Gruppe ist, die einen solchen Antrag stellt», kritisiert der Autor die Asylpolitik der EU.
Das mag deswegen für manche Islamkritiker und Gegner der Asylpolitik in Deutschland oder anderswo überraschend klingen, weil man sich gerne auf die Türkei einschießt und den Türken als den Prototypen des Migranten darstellt. Dabei war es die Türkei gewesen, die 2016 mit der EU auf einen Deal eingegangen ist, und somit den Zustrom von Syrien deutlich abschwächen konnte.
Die Kurden und der Journalist Deniz Yücel
Und: Neben der Kritik an der Solidarität mit den Gülen-Anhängern ist zudem noch auf die Romanze zwischen dem Westen und den Kurden einzugehen. Die Tatsache, dass das linksextreme bis linksliberale politische Lager sich seit langem mit kurdischen Extremisten solidarisiert hat, ist im Westen nichts Neues. Dass sich die sozial-konservative Bundesregierung mit den Kurden im Irak solidarisiert und sie (angeblich) im Kampf gegen den Islamischen Staat mit Waffenlieferungen und Ausbildern unterstützt, kann man als bedenklich betrachten.
Geht man auf die Flüchtlingskriminalität ein, so ist es auffallend, dass rechte und migrationskritische Portale, die aus Solidarität mit den USA und Israel, kritisch gegenüber Türken, Syrern und Irakern sind, bei der Herkunft ein wenig ungenau sind. Denn oftmals wird vom syrischen, irakischen oder türkischen Flüchtling gesprochen, wenn eine Frau vergewaltigt wird oder ein Mann abgestochen wird. Auf eine kurdische Herkunft geht man hier selten bis gar nicht ein. Im Gegenteil: Auch hier tendiert man zu einer Solidarität mit den Kurden in Syrien, im Irak und in der Türkei.
Auch diese Pauschalisierung, die wohl auch mit der Solidarität der Kurden zu den USA und Israel zusammenhängt, und somit ein Schittpunkt zu den leitenden rechten Alternativmedien ist, stößt auf die Türken bitter auf. Und daher ist es wenig verwunderlich, dass sich Türken (innerhalb und außerhalb der Türkei) weiter mit der türkischen Regierung solidarisieren, die sich wohl militärisch als auch politisch nach Partnern in der Region umschauen wird und dem «freien Westen» den Rücken kehren wird.
Und diese Tendenz liegt nicht nur an den gescheiterten Putschversuchen in den Jahren 2013 und 2015, sondern auch daran, dass man in den Jahren zuvor immer wieder die Türkei mit einem EU-Beitritt köderte und danach (wie heute) auf die Verletzung der (europäischen) Werte wie Demokratie, Freiheit und Menschenrechte mit erhobenen Zeigefinger hingewiesen hat.
Letzter großer Anlass für die Leitmedien hierfür war der deutsch-türkische Journalist Deniz Yücel, der auch kurdische Wurzeln hat und im Jahre 2018 für mehrere Monate in einem türkischen Gefängnis saß. Yücel ist spätetens seit seinem Buch über die Gezi-Revolution im Jahre 2013 bei den türkischen Behörden in Ungnade gefallen. Seine Berichterstattung über den gescheiterten Putschversuch im Jahre 2016 hat dann nochmal Öl ins Feuer gegossen. Und nachdem er sich mit kurdischen Terroristen getroffen hatte, dürfte er — zumindest aus türkischer Sicht — nicht mehr als Journalist gegolten haben, sondern als Staatsfeind. Und wie solidarisch sich westliche Medien und Politiker mit ihm zeigten, sollte dem regelmäßigen Leser von Zeitungen, Onlineportalen, sowie dem Zuschauer des öffentlich-rechtlichen Fernsehens unlängst bekannt sein.
Die Summe aus vielen verschiedenen Konflikten und Skandalen
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der gescheiterte Putsch von 2016 ein Meilenstein für die Verschlechterung der türkisch-europäischen Beziehungen war, aber nicht unbedingt der einzige Grund, dass das Ansehen der EU und auch des Westens an sich einen schweren Schaden in der Türkei genommen hat. Es ist eine Vielzahl von Fällen, die dazu geführt haben, dass (regierungsnahe) Türken inzwischen herzlich wenig mit der westlichen Auslegung von Werten wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte anfangen können. Auch mit der freien westlichen Presse dürfte man seit dem Böhmermann-Skandal nur noch wenig anfangen können.
Den Grund hierfür muss man nicht unbedingt in der politischen Dimension sehen, denn sowohl Bundeskanzlerin Merkel als auch Präsident Erdogan befanden sich in einer juristischen Zwickmühle, als es darum ging das Schmähgedicht von Satiriker Jan Böhmermann juristisch zu bewerten. Denn in den westlichen Medien wurde über das fehlende Taktgefühl Erdogans im Hinblick auf die Pressefreiheit gesprochen, obwohl es darum gar nicht ging. Vielmehr trat Böhmermann im öffentlich-rechtlichen Fernsehen gerade nicht als Journalist, sondern als Satiriker auf, so dass es hier um die Kunstfreiheit ging. Am Ende ging die Solidarität mit Böhmermann sogar so weit, dass man die strafbewehrte Beleidigung von ausländischen Staatsoberhäuptern aus dem Strafgesetzbuch entfernen ließ. Und dabei sollte gerade dieser Paragraph nicht alleine die das Ehre oder das persönliche Ansehen eines Staatsoberhauptes schützen, sondern die bilateralen Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland mit einem anderen Staat. Und hier stellt sich die Frage, ob Politik und Medien genauso solidarisch gewesen wären, wenn Böhmermann nicht den türkischen, sondern den israelischen Präsidenten beleidigt hätte.
«Der Putschversuch vom 15. Juli hat nicht nur die Beziehungen zwischen der Türkei und der EU in Mitleidenschaft gezogen, sondern auch das Image der EU als erklärter Verfechter von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten geschädigt. In den Augen vieler hat das Vorgehen und die Haltung der EU beim Putschversuch am 15. Juli die Glaubwürdigkeit der Union stark beeinträchtigt und ihre politische, ethische und moralische Führung in Frage gestellt. Wenn die EU ihren Einfluss auf die Weltbühne verstärken und ernster genommen werden will, muss sie das Gespräch führen, wenn es darauf ankommt, Versprechen und Verpflichtungen einhalten und sich für die Werte einsetzen, die sie prophezeit», resümiert der türkische Kollege seinen Beitrag.
Und genau den Dialog verpasste die EU ständig. Stattdessen geht man innerhalb der EU auf Scheindebatten im Hinblick auf die Pressefreiheit ein, die letztlich — wie die Böhmermann-Affäre zeigte — gar nichts mit der Pressefreiheit, sondern allenfalls mit der Meinungsfreiheit oder der Freiheit der Kunst zu tun hat, die zwar in einem Artikel zusammengefasst sind, aber dennoch ihre Unterschiede haben. Inzwischen sieht die Türkei in Russland einen starken Partner. Und auch hier hat die EU es immer wieder versäumt, einen vernünftigen Dialog zu führen. Stattdessen wird hier auch mit dem erhobenen Zeigefinger auf die mangelnde Umsetzung der westeuropäischen Werte wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte hingewiesen. Und das obwohl die Auslegung und Umsetzung dieser Werte zu verschiedenen Zeiten und/oder an verschiedenen Orten eine unterschiedliche Auslegung und Umsetzung bedürfen.
Wie demokratisch oder auch undemokratisch das Amt des Kommissionspräsidenten der EU-Kommission vergeben wurde, zeigt die Vergabe an Ursula von der Leyen, mit der zum Zeitpunkt des EU-Wahlkampfes und auch nicht zum Zeitpunkt der EU-Wahl kein Wähler hätte rechnen können oder müssen. Am Ende wurde sie nach der (demokratischen) EU-Verfassung dann doch rein formal demokratisch gewählt, auch wenn das für viele EU-Bürger, insbesondere dem Deutschen Wähler und kritischen Politiker, als unverständlich bis undemokratisch erscheinen lässt.