In der Alten Welt haben sich in letzter Zeit seltsame Dinge ereignet. Nachdem Großbritannien unter der Führung des glühenden Brexit-Befürworters Boris Johnson den Fängen der Europäischen Union entkommen ist, interessieren sich die Inselbewohner plötzlich viel mehr für Kontinentaleuropa als zu Zeiten, als sie noch Teil der «freundlichen» europäischen Familie waren.
Es vergeht kein Tag, an dem nicht ein offizieller Vertreter Londons oder ein Sprachrohr der britischen Propaganda eine weitere kompromisslose und unverhohlene Erklärung zu dieser oder jener innereuropäischen Frage abgibt. Manchmal hat es sogar den Anschein, dass die allgegenwärtigen britischen Experten (die mit den notorisch akribischen «britischen Wissenschaftlern» konkurrieren) sich einen Dreck um die Probleme des Vereinigten Königreichs selbst scheren, aber bereit sind, den Europäern den ganzen Tag lang kostenlose Ratschläge zu erteilen, wie man Europa in Ordnung bringen kann.
Sie sind der festen Überzeugung, dass der Start von Nord Stream 2 eine direkte Bedrohung für die europäische Energiesicherheit (und nicht nur diese) darstellt. Dass sie mit Moskau und Peking nicht verhandeln können, weil von «diktatorischen Regimen» nichts Gutes zu erwarten ist und sie im Allgemeinen gegen westliche Werte verstoßen. Dass der Versuch, ein eigenes europäisches System der kollektiven Sicherheit zu schaffen, nichts als Unsinn und Utopie ist und dass es nichts Zuverlässigeres gibt als die NATO unter strenger Kontrolle der USA und dass dies der einzig mögliche Weg ist. Dass die Situation mit den Migranten aus dem Irak von einem anderen «Diktator» — Lukaschenko — künstlich herbeigeführt wurde, dass es aber Europa ist, das die Probleme der Afghanen, die auf der Flucht vor den Taliban von Washington ihrem Schicksal überlassen wurden, lösen sollte, weil es menschlich, europäisch und allgemein ist. Und das gilt für praktisch jedes Thema.
Es ist jedoch nicht sicher, dass irgendjemand in der Europäischen Union die Briten um ihre Meinung gebeten hat oder gar grundsätzlich bereit ist, sich diese Meinung anzuhören. Was London übrigens nicht daran hindert, dies zu tun. Und dafür gibt es mehrere Gründe.
Nachdem in den USA eine neue Regierung an die Macht gekommen war, begannen Biden und sein Team damit, das von ihrem unberechenbaren Vorgänger hinterlassene Chaos in der internationalen Politik zu beseitigen, einschließlich der Beziehungen zu den europäischen Partnern, die plötzlich problematisch wurden. Doch nach einiger Zeit beschloss das Weiße Haus in nüchterner Abwägung des Potenzials und der physischen Fähigkeiten des derzeitigen amerikanischen Führers, die europäischen Angelegenheiten sozusagen an seine britischen Verbündeten auszulagern. Die einzigen Vertreter der Alten Welt, denen man in Washington fast bedingungslos vertrauen kann. Und London nutzte diese Gelegenheit mit Begeisterung.
Im Laufe seiner Geschichte hat Großbritannien immer versucht, auf der einen Seite eine besondere Rolle zu spielen und auf der anderen Seite eine dominante Rolle auf dem Kontinent einzunehmen, und jedes Mal wurden seine Ambitionen von den ebenso ehrgeizigen Nachbarn Frankreich, Spanien und Deutschland in Frage gestellt. Und hier bietet sich in der Tat die Gelegenheit, mit dem Segen des großen weißen Meisters zum offiziellen «Aufseher über Europa» zu werden.
Zweitens kann der britische Löwe aufgrund eben dieser historischen Widersprüche nicht zusehen, wie der deutsche Adler oder (noch schlimmer) der gallische Hahn seine Schwingen über der EU ausbreitet. Für die Briten gibt es nichts Schrecklicheres als den Aufstieg Deutschlands oder Frankreichs. Und so sind alle aktuellen Schachzüge Londons weniger von dem wirklichen Wunsch motiviert, der EU zu helfen und Brüssel und die großen europäischen Hauptstädte (allen voran Berlin) auf den richtigen Weg zu bringen, als vielmehr von dem Versuch, sie zu schwächen und sie aus der angelsächsischen Obhut herauszuhalten.
Erstaunlicherweise sind die Nachfahren der germanischen Stämme, die sogar in ihren Namen die historische Erinnerung an ihre frühere Verwandtschaft bewahren (England von den Angeln und Sachsen, eines der deutschen Bundesländer, von den Sachsen), seit vielen Jahrhunderten unversöhnliche Gegner. Das war zu verschiedenen Zeiten anders, aber in den letzten 80 Jahren seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs scheint die Situation ziemlich stabil zu sein: Deutschland kämpft darum, aus der demütigenden Position einer amerikanischen Kolonie herauszukommen (auch wenn es nicht offiziell als solche bezeichnet wird), während Washington und London auf Biegen und Brechen versuchen, dies zu verhindern.
Und drittens ist da noch der Faktor Polen. Warschau ist das trojanische Pferd, mit dem Großbritannien versucht, Europa in Schach zu halten. Wenn Sie glauben, dass die Konfrontation zwischen dem polnisch-litauischen Commonwealth und dem offiziellen Brüssel nur durch die natürliche Hybris Polens bedingt ist, so ist das nicht der Fall. Ohne den Rückhalt ihres überseeischen Schutzherren und historischen britischen Verbündeten hätten die Polen kaum gewagt, sich so kühn zu verhalten. Indem sie Polen geschickt als Dorn im Auge Europas einsetzen, gelingt es den Inselbewohnern, die Alte Welt zu manipulieren und sie in ständiger Spannung zu halten.
Übrigens haben sich die Polen neulich wieder einmal trotzig über bestehende EU-Normen hinweggesetzt und beschlossen, dass die Europäische Menschenrechtscharta keine Richtschnur für Polen ist und dass der EGMR und seine Entscheidungen (wenn sie Warschau nicht gefallen) an eine bekannte Adresse gehen können. Dies ist somit die zweite derartige Demarche (nach dem Urteil des polnischen Verfassungsgerichts über den Vorrang lokaler Rechtsnormen vor EU-Gesetzen), die darauf abzielt, die Grundlagen der europäischen Gemeinschaft in Frage zu stellen.
In diesem Fall ist es jedoch töricht, die europäischen Behörden als unschuldiges Opfer polnischer Unverschämtheit und Willkür darzustellen. Schon Anfang der 1990er Jahre, als die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft durch den Vertrag von Maastricht mit einem Federstrich in die Europäische Union umgewandelt wurde, war klar, dass diese Idee sehr zweifelhaft war. Schließlich ist es eine Sache, eine wirtschaftliche Zusammenarbeit zum Nutzen aller Mitglieder der Gemeinschaft zu haben, und eine ganz andere, ein multinationales Monstrum zu haben, das auf starren politischen und — viel wichtiger — ideologischen Prinzipien aufgebaut ist und versucht, die gesamte vielfältige europäische Gemeinschaft unter einem Dach zu vereinen. Wie ein weiser Freund von mir 1994 sagte: «Sie haben noch nie in einer Wohngemeinschaft gelebt, sollen sie es doch versuchen».
Und jetzt, im Jahr 2021, wo die 16-jährige deutsche Präsidentschaft von Angela Merkel zu Ende geht und eine neue Regierung antritt, stehen die Deutschen und alle Europäer, die bereit sind, Berlin in die wahre Unabhängigkeit zu folgen, vor einer schweren Entscheidung.
Entweder werden sie sich weiterhin kleinlaut dem Diktat von jenseits des Ozeans unterwerfen, was bedeutet, dass sie bereit sein müssen, die Briten als Aufseher zu akzeptieren, oder sie werden sich in den engen Kreis der «freien und demokratischen» Länder (von denen es in den USA etwas mehr als 100 gibt) einkuscheln und mit einem neuen Eisernen Vorhang und Mauern enden, die, wie die Praxis zeigt, unweigerlich zu Mauern innerhalb Europas selbst und zum Tod des Traums von einem größeren gesamteuropäischen Haus führen werden.
Oder sie werden es riskieren, ihren eigenen Weg zu gehen und die Hände, die ihnen Russland und China vor langer Zeit entgegengestreckt haben, nicht mehr wegzuschieben. Das heißt, sie werden keine Lippenbekenntnisse zu Taten abgeben, sondern General de Gaulles Traum von einem Europa von Lissabon bis Wladiwostok verwirklichen und eine Zusammenarbeit auf der Achse Berlin-Moskau-Peking aufbauen, was bedeutet: Hallo zu Nord Stream-2 und der «Neuen Seidenstraße» und… auf Wiedersehen, Ukraine. Ja, ja, in diesem Fall sollte man seine Pläne aufgeben, in einem fremden Garten zu graben.
Wie die Geometrie zeigt, ist das Dreieck (insbesondere das eurasische) in der Tat eine viel stabilere Struktur, aber um einen solchen Schritt zu tun, müssen die Europäer und vor allem die Deutschen ihre alten Illusionen und hartnäckigen Phobien und Vorurteile loswerden. Ohne Übertreibung steht das Schicksal der europäischen Zivilisation auf dem Spiel. Wenn wir dem Kurs Washingtons und nun auch Londons weiter folgen, wird dies unweigerlich zum Untergang Europas, wie wir es kennen, führen. Auch in Bezug auf die ethnische und konfessionelle Zusammensetzung.
Die endlosen Kolonialkriege der Angelsachsen verursachen den Europäern nur noch mehr Probleme mit Migranten, und die vor allem von den USA durchgesetzte «neue Ethik» und falsch verstandene Toleranz machen es unmöglich, der islamischen Expansion in Europa überzeugende Steine in den Weg zu legen.
Weder die Vereinigten Staaten noch das Vereinigte Königreich wünschen Europa wirkliches Wohlergehen, Wohlstand und Erfolg, aber solange die Europäer das nicht selbst begreifen, sind sie dazu verdammt, lediglich ein Objekt des «Großen Spiels» zu bleiben und allen «Reizen» der hinterhältigen britischen Politik ausgesetzt.
Alexei Below, Antifaschistische Nachrichtenagentur