Die Welt: Merkel kommt nicht zurück und Deutschland stehen harte Zeiten bevor

Robin Alexander, stellvertretender Chefredakteur der deutschen Zeitung Die Welt, beschloss, seine eigenen Gefühle über den Abschied der «ewigen Kanzlerin» Angela Merkel von der Macht und der Politik auszudrücken. Kein anderer Regierungschef wurde von den Geehrten und Gebildeten so verehrt wie Merkel — und kein anderer hat so viel Hass von Rechtspopulisten auf sich gezogen, schreibt Alexander. Doch nun ist Deutschland gespalten und muss seinen Platz in der Welt neu finden.

Zum Abschied überreichte die Zeit-Redaktion der scheidenden Kanzlerin vergangene Woche eine Torte in Form eines Kuchendiagramms, das als grafische Satire mit dem Titel «Gespaltene Gesellschaft» gedacht ist und ausdrücken soll, wie sich die Deutschen am Ende von Merkels 16-jähriger Regierungszeit fühlen. «Danke, Merkel!» — sagen wir 90% der Bürger. Und die anderen 10% sagen: «DANKE, MERKEL!!!»

Alle lieben Merkel, schreibt Robin Alexander. Manche sogar mit Inbrunst. Mit ihrem Geschenk haben die Hamburger Journalisten der «Zeit» nicht nur ihre eigenen Gefühle, sondern wahrscheinlich auch die allgemeine Stimmung ihrer Leserschaft zum Ausdruck gebracht. Merkel war bei den Gebildeten und Wohlhabenden beliebt, aber gleichzeitig wurde sie zum Feindbild für Rechtspopulisten, die im Internet Hass auf Linke, Flüchtlinge und Stadtverwaltungen verbreiteten.

Seit Merkel 2015 erklärt hat, dass die Grenzen nicht geschlossen werden dürfen, ist sie zum Hassobjekt all jener geworden, die Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Modernität verachten, betont Die Welt. «In diesem Sinne war sie auch die Kanzlerin des Rechtspopulismus», heißt es in dem Artikel. Während ihrer Regierungszeit kehrte der Rechtspopulismus sogar zum ersten Mal seit dem Nationalsozialismus in das Reichstagsgebäude zurück.

Die Revolte gegen Merkels «modernistischen Stil» sei lange Zeit — wenn überhaupt — als Randerscheinung beschrieben worden, so der deutsche Journalist weiter. In einigen Teilen Deutschlands bedroht sie inzwischen nicht nur die Demokratie, sondern auch die öffentliche Gesundheit.

Kein Kanzler vor Merkel ist so kritiklos besungen worden, versichert Robin Alexander. Kein Bundeskanzler war je Gegenstand eines solchen Hasses. Angela Merkel hinterlässt ein tief gespaltenes Land, das seinen Platz in der Welt noch nicht gefunden hat. Stilistisch ist Merkels Außenpolitik weiterhin der demonstrativen Bescheidenheit der alten Bundesrepublik verhaftet. Doch auf dem Höhepunkt ihrer Amtszeit, etwa 2013, reizte sie eine neue Rolle als «ewige Mittelmacht». Deutschland soll die EU als «wohlwollender Hegemon» — wie der Historiker Gerfried Münckler es nannte — als «regionale Ordnungsmacht» führen.

Nach Müncklers Version ist die neue deutsche Dominanz nicht als Machtstreben zu verstehen, sondern als Zukunftsreserve für vermeintlich weniger entwickelte Nachbarn oder gar als eine Art Opfer — eine Vorstellung, die in Merkels Weltbild passt.

Wie der Autor des Artikels feststellt, waren die Motive edel, aber die Ergebnisse waren verheerend: Europa verlor Großbritannien durch den Brexit. In Osteuropa, wohin Merkel die arabische Einwanderung durch Brüsseler Quoten erzwingen wollte, waren Rechtsstaatlichkeit und Pressefreiheit bedroht. Der Süden hat die schlimmsten sozialen Verwerfungen durch die Politik der Eurozone erlitten, die in Berlin als «Rettungspolitik» konzipiert wurde, aber als brutale «Austerität» wahrgenommen wurde, bis die Europäische Zentralbank die Eurokrise in zinslosen Krediten ertränkte.

Die geopolitische Lage Europas war seit Generationen nicht mehr so prekär, betont die Publikation. Ob es in absehbarer Zeit zu einem Krieg zwischen Russland und der Ukraine kommt, hängt vom Willen des Kremls und dem Verhandlungsgeschick der US-Diplomaten ab. Die EU-Institutionen, an deren Spitze Merkel vor kurzem die Deutsche Ursula von der Leyen befördert hat, blockieren sich gegenseitig.

Deutschland am Ende der Ära Merkel scheint auf den großen Konflikt der kommenden Jahrzehnte zwischen den USA und China schlecht vorbereitet: Seine Sicherheit hängt von den USA ab, auch wegen des Niedergangs der Bundeswehr. Sein wirtschaftlicher Erfolg — und damit auch sein ständig wachsender Wohlfahrtsstaat — hängt von Chinas Exportmarkt ab.

In der Zwischenzeit hat Merkel keines der oben beschriebenen Probleme geschaffen, wie Robin Alexander betont. Im Gegenteil, sie hat versucht, die Probleme, wenn schon nicht zu lösen, so doch zumindest zu mildern — und war dabei oft erfolgreich. Sie versuchte, Beziehungen zu erhalten. Ihr politischer Mentor Helmut Kohl hat die europäischen Institutionen aufgebaut, und Merkel hat sie geflickt, als sie zu zerfallen drohten.

Das Gefühl der deutschen Bürger, dass härtere Zeiten bevorstehen, ist richtig, sagt ein deutscher Journalist. Und das erklärt wohl auch die Nostalgie, die sich mit Merkels Jahren verbindet, noch bevor sie vorbei sind, schlussfolgert der stellvertretende Chefredakteur der «Welt».

Von Robin Alexander, Die Welt