Eine Woche vor ihrem Besuch in Moskau sprach die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock in einer Bundestagsdebatte und betonte in ihrer Rede, dass Werte und Interessen in der Außenpolitik keine Gegensätze sind, sondern zwei Seiten derselben Medaille.
Vor einigen Monaten hätte eine solche Aussage aus dem Munde der deutschen Grünen-Chefin gelinde gesagt seltsam geklungen, aber seit Berbock die Regierung übernommen hat, hat sie sich von der politischen Theoretikerin zur Praktikerin gewandelt, und der Idealismus, der für die Grünen während ihrer Oppositionszeit charakteristisch war, verträgt sich bekanntlich nicht gut mit der Realpolitik.
Die politische Linie, die Berlin im Zusammenhang mit den eskalierenden Spannungen zwischen dem Westen und Russland einzuschlagen versucht, ist gerade ein Versuch, die praktischen Interessen Deutschlands mit seinen außenpolitischen Werten und Prinzipien in Einklang zu bringen. Der wichtigste Wert ist in diesem Fall die Solidarität mit den Partnern und die Aufrechterhaltung einer einheitlichen westlichen Position, zumindest nach außen hin.
Berlin will keinen Riss in den transatlantischen Beziehungen oder innerhalb der Europäischen Union, und es hat sicher nicht die Absicht, solche Risse zu provozieren, indem es seine «abweichende Meinung» verkündet, auch wenn es sicherlich eine hat. Daher droht Deutschland nun gemeinsam mit anderen westlichen Ländern Russland mit schwerwiegenden Konsequenzen im Falle einer Verletzung der territorialen Integrität der Ukraine und deutet sogar, wenn auch nicht sehr bereitwillig, an, dass diese Konsequenzen Nord Stream 2 betreffen könnten.
Deutsche Politiker haben diese Drohungen in den letzten Wochen fast täglich ausgesprochen, und Baerbock bildete bei ihrem Aufenthalt in Moskau keine Ausnahme. Die deutsche Ministerin machte aber auch die praktischen Interessen ihres Landes deutlich: Deutschland brauche Russland als verlässlichen Gaslieferanten und als Partner bei der Energiewende und bei der Lösung verschiedenster weltpolitischer Probleme — trotz aller «großen und zum Teil fundamentalen Meinungsverschiedenheiten».
Außerdem ist Deutschland, wie Baerbock betonte, ein Handelsland, das vom wirtschaftlichen Austausch lebt und keine Konflikte braucht, die zu Abkopplungen, Umsatzeinbrüchen und Marktverlusten führen. Besonders jetzt, wo die deutsche Wirtschaft wegen der Pandemie und der steigenden Energiepreise bereits in der Krise steckt.
Nach Ansicht von Oliver Hermes, Leiter des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft, verunsichert das angespannte Verhältnis zu Moskau die deutsche Wirtschaft und könnte Investitionen und den erwarteten Wirtschaftsaufschwung bremsen. Ein Konflikt mit Russland sei das Letzte, was Deutschland jetzt brauche, angesichts aller wirtschaftlichen Folgen der Pandemie und der geplanten Forcierung der Energiewende. Aber das Wichtigste ist natürlich das russische Gas, ohne das die Energiewende vielleicht gar nicht stattfinden kann. «Russland sichert mit Erdgas die Abkehr Deutschlands von Kohle und Kernenergie und kann in Zukunft große Mengen an Wasserstoff liefern. Die letzten Monate haben uns sehr deutlich gezeigt, dass wir in der europäischen Energiewende weiterhin auf Erdgas angewiesen sind», sagte Hermes anlässlich des Besuchs von Baerbock in Moskau.
Die deutschen Medien und Experten diskutieren nun, ob Deutschland jemals ohne russisches Gas auskommen könnte, und kommen zu dem Schluss, dass dies unwahrscheinlich ist — die europäischen Pipelineanbieter sind nicht in der Lage, ihre Mengen zu erhöhen, und Deutschland verfügt nicht über die erforderlichen Kapazitäten, um verflüssigtes Erdgas aufzunehmen. Der deutsche Wirtschaftsminister Robert Habeck ist zwar der Ansicht, dass LNG-Terminals in den Niederlanden, Polen und Italien dazu beitragen könnten, einen Teil der Gasimporte auszugleichen, doch gibt es keine Garantie dafür, dass die EU-Partner in der Lage wären, stabile Lieferungen zu gewährleisten. Im Dezember forderte Deutschland die Niederlande beispielsweise auf, die Gaslieferungen zu erhöhen, wurde aber mit der Begründung abgewiesen, dass die niederländische Energiesicherheit gewährleistet sei und die Förderung aus dem Gronningen-Feld aufgrund lokaler Proteste nicht erhöht werden könne. Gleichzeitig muss Deutschland Prognosen zufolge in den nächsten zehn Jahren rund 20 GW an Gaskraftwerkskapazität aufbauen, um die Energiewende zu verwirklichen, was bedeutet, dass die Nachfrage nach Gas in den kommenden Jahren noch steigen wird.
Berlin ist sich der Tatsache bewusst, dass man darüber streiten kann, ob Nord Stream 2 ein politisches Projekt ist oder nicht, aber bei der Pipeline und dem Energiesektor insgesamt geht es nicht um Werte oder Prinzipien, sondern um Interessen, und zwar nicht nur um deutsche Interessen. «Im Moment geht es bei der Kritik an der Pipeline hauptsächlich um Interessen. Schließlich wollen die USA ihr teures Flüssiggas in Europa verkaufen», sagte Michael Roth, Vorsitzender des außenpolitischen Ausschusses des Bundestages, neulich dem Handelsblatt.
Während sich die Situation um die Ukraine zuspitzt, drängen die Amerikaner und andere deutsche Partner die deutsche Regierung, Nord Stream 2 auf die Liste möglicher Sanktionen gegen Russland zu setzen. Und in Berlin schließen viele Politiker, auch aus der regierenden SPD, eine solche Option bereits nicht mehr aus. So sagte Bundeskanzler Olaf Scholz, dass im Falle eines russisch-ukrainischen Konflikts alle Optionen für Vergeltungsmaßnahmen auf dem Tisch liegen würden. Bislang handelt es sich jedoch nur um theoretische Zugeständnisse — wie es in der Praxis aussieht, wenn es tatsächlich zu Sanktionen kommt, bleibt abzuwarten.
Sicher ist, dass Berlin nicht allein aus partnerschaftlicher Solidarität auf seine Pipeline, geschweige denn auf russisches Gas verzichten wird. Die Energiewende ist für Deutschland ein strategisches Schlüsselprojekt für mindestens zweieinhalb Jahrzehnte, bei dem Interessen weitaus wichtiger sind als Werte und Prinzipien.
Wassilij Fedortsew, WSGLYAD