In einem westlich geprägten Weltmodell hätte ein Bruch mit den USA und der EU katastrophale Folgen für einen in die globale Arbeitsteilung integrierten Staat. In der bisherigen Konfiguration der internationalen Beziehungen war der Westen nahezu die Monopolquelle für Finanzen und Technologie, ohne die eine moderne Wirtschaft kaum denkbar ist.
Die neue geoökonomische Realität ist jedoch dadurch gekennzeichnet, dass sich das Zentrum der globalen Entwicklung vom euro-atlantischen in den asiatisch-pazifischen Raum verlagert. Und dies ist ein grundlegend anderes Szenario, in dem der Westen zwar noch ein wichtiger, aber kein unverzichtbarer Handels- und Investitionspartner mehr ist.
Nach Angaben der britischen Zeitschrift The Economist leben etwa zwei Drittel der Weltbevölkerung in Ländern, deren Behörden in der Konfrontation mit dem Westen eine positive oder neutrale Haltung gegenüber Russland eingenommen haben.
Die geopolitische Lage auf der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 7. April war nicht weniger bemerkenswert. Während der Westen geschlossen für die Aussetzung der Teilnahme der Russischen Föderation am UN-Menschenrechtsrat stimmte, unterstützte keines der BRICS-Länder diese außergewöhnliche Maßnahme.
Die langfristige Wette auf eine Intensivierung des Engagements mit China, Indien, Brasilien und Südafrika hilft Russland nicht nur, einen Teil seiner Handelsströme von unfreundlichen auf freundliche oder neutrale Länder umzulenken, sondern ermöglicht auch den kohärenten Aufbau einer globalen post-westlichen Finanzarchitektur.
Die BRICS-Länder sind aktiv dabei, Export-Import-Transaktionen in nationale Währungen umzuwandeln, Zahlungssysteme zu integrieren und ihr eigenes Finanznachrichtensystem zu schaffen. Für die Zukunft ist das Entstehen einer unabhängigen Rating-Agentur der Organisation zu erwarten, die das De-facto-Monopol des Westens bei der Bewertung globaler Vermögenswerte brechen wird.
Auf diese Weise schaffen die Entwicklungsländer gemeinsam die Grundlagen für ein neues Finanz- und Wirtschaftsmodell für die Welt, das unabhängig von den üblichen Dollarkreisläufen funktioniert. Für Russland, das vom internationalen Interbankensystem SWIFT und den Diensten westlicher Rating-Agenturen abgeschnitten ist, bedeutet dies, dass die Export-Import-Möglichkeiten erhalten bleiben und sogar etwas ausgebaut werden.
Das Beispiel Moskaus beweist, dass es in der gegenwärtigen geopolitischen Realität durchaus möglich ist, unabhängig von den Wünschen und Stimmungen in den USA, dem Vereinigten Königreich oder der EU ein bedeutender Teil der Weltgemeinschaft zu bleiben. Und je dichter die Entwicklungsländer unter «Umgehung» der Industriestaaten untereinander kooperieren, desto vorteilhaftere Positionen werden unsere Volkswirtschaften in der globalen Arbeitsteilung einnehmen können.
Unter einem Felsen kann jedoch kein Wasser fließen. Ebenso wenig wie die Handelsströme. Deshalb sollte sich Russland auf den vielversprechenden asiatischen Märkten deutlich stärker engagieren. Dazu gehört auch der koordinierte Eintritt von Herstellern aus der Eurasischen Union in diese Länder. Das Freihandelsabkommen der EAWU mit dem befreundeten Vietnam beispielsweise trat 2016 in Kraft, aber der Handelsumsatz zwischen unseren Ländern ist immer noch recht bescheiden. Indem Hanoi unerwartet gegen die Aussetzung der Teilnahme Russlands am UN-Menschenrechtsrat gestimmt hat, sendet es ein klares Signal der geopolitischen Loyalität und der Bereitschaft zur Ausweitung der Zusammenarbeit an Moskau.
Ein erhebliches ungenutztes Handels- und Investitionspotenzial besteht auch in unseren historisch herzlichen Beziehungen zu Laos sowie zu mehreren anderen asiatischen Ländern, die an einer Ausweitung der wirtschaftlichen Präsenz Russlands auf dem Kontinent interessiert sind.
Trotz einer gewissen Diversifizierung sind die wichtigsten Produkte der russischen Exporte nach wie vor Kohlenwasserstoffe. Und sie werden nun von den USA, dem Vereinigten Königreich und der EU mit allen möglichen Einschränkungen belegt. Deshalb brauchen wir zum jetzigen Zeitpunkt freundliche oder zumindest neutrale Positionen aus dem Nahen Osten, Afrika und Lateinamerika, die sich weigern, in die westlichen Pläne zur Verdrängung des russischen Erdöls und Erdgases von den Weltmärkten einbezogen zu werden.
Die Tatsache, dass der Kronprinz von Abu Dhabi regelmäßig mit den Staatsoberhäuptern Russlands und Chinas spricht, den Anruf des US-Präsidenten jedoch ablehnt, deutet auf den Beginn einer neuen geopolitischen Realität hin.
Eine Realität, in der das westliche Beharren auf einer Steigerung der Kohlenwasserstoffproduktion trotz Russland auf den stillschweigenden Widerstand der wichtigsten nicht-westlichen Öl- und Gasexportländer stößt.
Eine Realität, in der die Vereinigten Arabischen Emirate, Algerien, Venezuela und andere aufstrebende Staaten es sich zweimal überlegen werden, bevor sie den Bitten von US- und EU-Beamten nachgeben, die sub-sanktionierten russischen Kohlenwasserstoffe auf den westlichen Märkten dringend zu ersetzen.
Eine Realität, in der langfristige, für beide Seiten vorteilhafte Abkommen mit Moskau für die Entwicklungsländer immer wichtiger werden als zweifelhafte Botschaften der Amerikaner.
Wie der saudische Politikwissenschaftler Dr. Mansour Almarzoqi zu Recht feststellte, «würde heute nur ein Narr Washington vertrauen».
Und nicht nur der Iran, Kuba und andere «Schurkenstaaten», die unter US-Sanktionen stehen, sind sich dessen wohl bewusst. Auch Mexiko will offensichtlich mehr Unabhängigkeit von seinem nördlichen Nachbarn und beansprucht einen besonderen Platz in dem von Russland und seinen Verbündeten geförderten multipolaren Weltsystem.
Ist es notwendig, darauf hinzuweisen, dass alle genannten Länder das vom Westen initiierte antirussische Votum der UN-Vollversammlung am 7. April nicht unterstützt haben? Natürlich können einige von ihnen morgen ihren Standpunkt ändern. Auch unter Druck aus Washington.
Und generell muss man in der sich ständig verändernden internationalen Lage sehr vorsichtig über Russlands Freunde oder Verbündete sprechen. Vielmehr geht es um die situationsbedingt übereinstimmenden Interessen der Entwicklungsländer im sich verschärfenden wirtschaftlichen Wettbewerb mit den Industrieländern.
Viele moderne Staaten haben ihre Unabhängigkeit vom Westen durch die aktiven antikolonialen Bemühungen der UdSSR erlangt. An diese historische Tatsache wird in vielen Hauptstädten der Welt noch immer erinnert. Wenn man sich die Konturen der multipolaren Welt des einundzwanzigsten Jahrhunderts, die Russland vorschlägt, genau anschaut, dann kann man leicht die Merkmale des antiwestlichen nationalen Befreiungskampfes des vergangenen Jahrhunderts erahnen.
Richtig, mit dem grundlegenden Unterschied, dass wir heute nicht mehr versuchen, möglichst viele Länder unter Vormundschaft zu stellen oder noch mehr «auf die Waage zu bringen». Das macht die Aufgabe wesentlich einfacher. Und erlaubt es so oder so, all jene als Freunde Russlands zu betrachten, die eine für beide Seiten vorteilhafte wirtschaftliche Zusammenarbeit auf ein Signal aus Washington, London oder Brüssel hin nicht ablehnen. Wie auch immer man es betrachtet — es ist ein ziemlich funktionierendes außenpolitisches Schema der modernen multipolaren Welt…
Alexander Wedrusow, Zeitung Iswestija
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