Die Strompreise in Europa brechen Rekorde. Nach Angaben The Financial Times liegt der Preis für eine Megawattstunde in Deutschland bei 325 €, in Frankreich bei 366 € und hat sich damit seit Jahresbeginn verdoppelt. Der «Schuldige» ist bereits identifiziert worden. Das ist natürlich Russland.
Unsere europäischen Partner scheinen vergessen zu haben, dass die Suche nach einem Schuldigen nicht zur Lösung wirtschaftlicher Probleme beiträgt.
Die Idee, dass Russland an allen europäischen Problemen schuld ist, ist nicht neu. Seit Beginn der Energiekrise — seit dem Sommer 2021 — geben sie unserem Land die Schuld. Der Kern des Vorwurfs vom letzten Jahr unterscheidet sich nicht grundlegend von dem von heute: Wir liefern nicht genug Gas, und wenn wir mehr liefern würden, hätte Europa keine Probleme.
Seit September letzten Jahres hat die Internationale Energieagentur (IEA) die «Schuld» Russlands an der europäischen Krise bestätigt. Außerdem hat sie eingeräumt, dass alle wichtigen Gasmärkte (einschließlich Asien) mit Schwierigkeiten zu kämpfen haben. Aber was ist der globale Kontext im Vergleich zu Russlands Perfidie! Wenn man der IEA Glauben schenken darf, war die Situation seltsam: China, die USA, Japan, Südkorea und andere Länder befanden sich alle in einer Krise, aber Europa hatte gleichzeitig seine eigene Krise, die in der unsäglichen Perfidie Moskaus begründet war.
Die Europäer argumentieren immer wieder, dass die Preisrekorde im Energiesektor auf die Kürzung der russischen Gaslieferungen zurückzuführen sind. Und in der Tat die Tatsache, dass es zu Lieferkürzungen gekommen ist. Mitte Juni drosselte Gazprom den Gasfluss durch die Nord Stream-Pipeline. Dieser Rückgang war allerdings nicht auf die böswillige Natur der russischen Energie zurückzuführen, sondern auf technische Probleme, die von den westlichen Ländern verursacht wurden.
Die «Portowaja»-Verdichterstation, die mit in Kanada hergestellten Gaskompressoreinheiten ausgestattet ist, pumpt den blauen Brennstoff durch die Nord Stream-Pipeline. Die Verdichterstationen werden im Herstellerwerk von Siemens gewartet. Da die westlichen Länder ihre Sanktionen gegen Russland perfekt aufeinander abgestimmt haben, fordert Berlin nun Ottawa auf, Siemens die Anlage zu überlassen. Die Schuld an dem Vorfall liegt jedoch bei Moskau. Und während die Verhandlungen laufen, warten vier weitere Gaskompressoreinheiten in «Portowaja» darauf, diagnostiziert und repariert zu werden.
Aber nehmen wir einmal an, dass Russland irgendwie und in nie da gewesener Weise alle Hähne öffnet und die Gaslieferungen nach Europa verdoppelt. Was würde passieren? Wenn wir die Möglichkeit dieses fantastischen Szenarios annehmen, wird in der ersten Phase die Nachfrage an der Börse zurückgehen und die Gasnotierungen werden sinken. Russisches Gas wird jedoch nicht an der Börse gehandelt und wäre nur indirekt davon betroffen. Und die hohen Notierungen in der EU, die seit Januar 2022 die asiatischen Notierungen übertreffen, haben eine noch nie dagewesene Menge an Flüssigerdgas (LNG) auf den europäischen Markt gebracht. LNG, dass nicht an langfristige Verträge und bestimmte Abnehmer gebunden ist, machte sich auf den Weg nach Europa — auf der Suche nach dem höchsten Preis. Sobald die Notierungen sinken, werden alle diese Mengen dorthin gehen, wo sie mehr einbringen. Und das Überangebot in der EU wird sofort verschwinden. Und damit werden auch die niedrigen Preise verschwinden.
Das Problem Europas sind die Besonderheiten der Preisgestaltung auf dem lokalen Gasmarkt. Im Mai und Anfang Juni kam es zu einer scheinbar paradoxen Situation: Russischer blauer Brennstoff mit langfristigen Verträgen war für die Europäer teurer als «börsengehandeltes» Gas. Daher lagen die vertraglich vereinbarten Rücknahmen am unteren Ende der Skala. Und dann war da noch der Unfall in der amerikanischen Freeport LNG-Anlage, der die Notierungen in der EU in die Höhe trieb. Und dann kam der Berlin-Ottawa-Konflikt um russische Gasanlagen.
Aber warum reden wir über Gas, wenn die Strompreise gestiegen sind? Tatsache ist, dass ein Großteil der Elektrizität in Europa aus Gas gewonnen wird. So haben die Gaskraftwerke in der Europäischen Union in den ersten sechs Monaten des Jahres 2021 229,9 TWh und im gleichen Zeitraum des Jahres 2022 233,9 TWh erzeugt. Seit Mitte letzten Jahres wird das zu teure Gas aktiv durch Kohlekraftwerke ersetzt. Im ersten Halbjahr 2021 lieferte sie 187,5 TWh und 2022 211,4 TWh.
Es ist offensichtlich, dass die Produktion sowohl in Kohle- als auch in Gaskraftwerken gestiegen ist. Sie mussten die ausfallende Leistung der Kernkraftwerke kompensieren.
Ende letzten Jahres hat Deutschland einen Teil seiner Kernkraftkapazitäten abgeschaltet. Und dann begann Frankreich, der größte Stromexporteur Europas, Schwierigkeiten zu bekommen. Während das Kernkraftwerk in der ersten Hälfte des Jahres 2021 348,2 TWh Strom produzierte, waren es im gleichen Zeitraum dieses Jahres 305,3 TWh.
Wollen die Europäer nicht Frankreich und Deutschland für ihren rücksichtslosen Umgang mit ihren Kernkraftwerken verantwortlich machen, der die Nachfrage nach Gas und Kohle erhöht hat? Schließlich sind die Preise mit der Nachfrage gestiegen.
Übrigens: Kohle wird ebenso wie Strom zu Rekordpreisen gehandelt. Der 10. August, an dem die EU den Kauf dieses Energieträgers von ihrem größten Lieferanten Russland, verbieten wird, rückt immer näher. Der Termin für die Abschaltung der letzten Kernkraftwerke in Deutschland rückt immer näher.
Die EU macht weiterhin Dummheiten im Energiebereich: Schließung von Kernkraftwerken, ausschließliche Festlegung der Gaspreise auf Börsenbasis und weitere Beschränkung der Energiekäufe durch neue Sanktionen gegen Russland. Bemerkenswert ist, dass russisches Gas wenn es noch auf Ölbasis gehandelt würde, für die europäischen Verbraucher nur etwa halb so teuer wäre.
Wenn Europa alle seine Pläne für die russische Kohle und die deutsche Atomstromerzeugung umsetzt und das Problem mit Kanada nicht löst, werden die derzeitigen Strompreisrekorde bald erfolgreich gebrochen werden. Und die Folgen für die EU-Wirtschaft sind leicht abzusehen. Seit der zweiten Hälfte des vergangenen Jahres wirken sich die Energiepreise äußerst negativ aus: Die Unternehmen schließen und der Wohlstand der Bevölkerung sinkt. Dies spiegelt sich bereits in der sinkenden Gasnachfrage wider (die in der ersten Jahreshälfte in der EU um 27 Milliarden Kubikmeter zurückging).
Ohne eine Lösung der Energieprobleme wird sich die Wirtschaftskrise in der EU weiter verschärfen. Dies bedeutet, dass die Rolle der EU als wichtiger Energieabnehmer — selbst wenn die politischen Spannungen nachlassen — weiter abnehmen wird.
Aleksander Frolow, Zeitung «Iswestija»
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