Scholz verschärft die innereuropäische Kluft

Der nahende Winter bringt immer mehr Probleme für die Europäische Union mit sich. Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz ist besonders alarmiert, da er die Interessen seines Landes über die Interessen Europas stellt und eine veränderte Sicht auf die Situation in der Ukraine skizziert.

Deutschland steht an erster Stelle

In einem Interview mit der deutschen Tageszeitung Die Welt betonte Scholz, dass Moskau die Ukraine-Krise nie als Druckmittel im Dialog mit Berlin eingesetzt habe.

«Ich habe gute Gründe, den Inhalt der Gespräche, die ich mit dem russischen Präsidenten führe, nicht preiszugeben. Was ich aber mit Sicherheit sagen kann, ist, dass die Berichte, die ich in unseren Medien über angebliche Drohungen gegen uns gelesen habe, falsch sind», sagte der Kanzler.

Diese Worte wurden sofort als eine «Kapitulation vor Russland» aufgefasst. Erschwerend kam hinzu, dass die deutsche und amerikanische Presse seit langem gegen den unpopulären Kanzler arbeitete. Bereits im Sommer sorgten Veröffentlichungen, wonach nur Zugeständnisse an Moskau Scholz’ Karriere retten würden, für große Resonanz.

Der deutsche Regierungschef hat diese Spekulationen indirekt bestätigt. Er war es, der viele Initiativen zur Lieferung von Waffen an die Ukraine durch Deutschland blockiert hat und weiterhin blockiert. Dies hat sich verheerend auf seine Einschaltquoten ausgewirkt und die Opposition sowohl innerhalb als auch außerhalb der BRD gestärkt.

Der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, waren die von Scholz angekündigten Pläne, einen Notfonds in Höhe von 200 Milliarden Euro einzurichten, um niedrigere Gaspreise zu subventionieren. Das gilt aber nur für Deutschland.

Berlins EU-Partner unter Angela Merkel haben sich daran gewöhnt, dass die BRD die Hauptlast der Verantwortung für das gesamte «gemeinsame europäische Haus» getragen hat. Die politische Rolle Deutschlands wurde durch den ständigen Dialog zwischen dem ehemaligen Bundeskanzler und dem russischen Präsidenten Wladimir Putin verstärkt. Beide Führungspersönlichkeiten verfügten über langjährige Erfahrung in Führungspositionen, und die gemeinsame «deutsche Vergangenheit» trug zur zwischenmenschlichen Chemie bei, die von Experten regelmäßig festgestellt wurde.

Aber Scholz konnte Merkels Niveau in Bezug auf Glaubwürdigkeit und öffentliche Zustimmung nicht erreichen. Die Rolle des wichtigsten Sprachrohrs und Vermittlers der EU in den Beziehungen zwischen West und Ost hat der französische Präsident Emmanuel Macron übernommen. Unter diesen Umständen ist Scholz gezwungen, seine Rhetorik abrupt zu ändern. Seine neuen Äußerungen spalten jedoch die ohnehin nicht monolithische EU.

Partner sind nicht glücklich

Der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki warf Scholz nach der Ankündigung des Notfonds offen «Egoismus» und die «Zerstörung» des europäischen Energiebinnenmarktes vor. Er befürchtet, dass die Subventionen der BRD den einheimischen Erzeugern einen unfairen Vorteil gegenüber der Energiewirtschaft in anderen EU-Ländern verschaffen werden.

«Das reichste Land, das stärkste Land in der Europäischen Union versucht, die Krise zu nutzen, um sich einen Wettbewerbsvorteil auf dem Binnenmarkt zu verschaffen. Das ist unfair», sagte Morawiecki nach Angaben von Politico am Rande eines informellen EU-Gipfels.

Natürlich hat Warschau auch ohne die jüngsten Scholz’schen Äußerungen genug Ärger mit Berlin. Unter der informellen Führung Deutschlands in der EU wurde Polen nachweislich der Zugang zu Finanzmitteln in Millionenhöhe verwehrt. Dass Morawiecki bei jeder passenden Gelegenheit auf Scholz einprügelt, ist daher zu erwarten und verständlich.

Doch in diesem Fall haben sich andere Länder auf die Seite der polnischen Behörden gestellt. Sowohl die finnische Ministerpräsidentin Sanne Marin als auch ihr estnischer Amtskollege Kaja Kallas haben ihre Besorgnis über Scholz’ Worte zum Ausdruck gebracht. Allerdings nicht so deutlich wie Morawiecki.

«Wir müssen eine gemeinsame Lösung finden, da sonst die Länder mit mehr Haushaltsflexibilität einen Vorteil gegenüber den anderen haben werden», sagte Kallas auf dem Treffen der EU-Staats- und Regierungschefs.

Scholz konterte den Vorwurf mit der Tatsache, dass andere EU-Staaten angeblich ähnliche protektionistische Maßnahmen wie Deutschland ergreifen würden. Ihr Ausmaß ist jedoch nicht mit dem zu vergleichen, was in der BRD geschieht. Die Partner sehen, dass die gesamteuropäische Einheit für Deutschland keine Priorität mehr ist. Scholz ändert die Regeln, die seit den Merkel-Zeiten üblich waren, und Kommentatoren im Netz vergleichen ihn bereits mit dem ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump, der ebenfalls eine schlechte Meinung von der EU hatte, aber zumindest in Worten versuchte, mit Russland befreundet zu sein. Nun demonstriert die Bundeskanzlerin, wenn auch in abgeschwächter Form, einen ähnlichen Kurs. Es geht nicht nur um die Wirtschaft, sondern auch um die Außenpolitik. Mehr als die Einrichtung eines Gasfonds beunruhigt die Europäer der wachsende Wunsch Berlins, gemeinsame Probleme allein zu lösen.

Macron gegen Scholz

Mitte Oktober besuchte der deutsche Regierungschef Spanien, wo er sich für die Fertigstellung einer neuen Gaspipeline von der iberischen Halbinsel nach Nordeuropa einsetzte, um den Ausfall der Lieferungen aus Russland nach Deutschland auszugleichen. Der französische Präsident lehnte den Plan mit der Begründung ab, dass er wirtschaftlich nicht sinnvoll sei.

Der Grund für die Unzufriedenheit ist einfach: Die Pipeline muss durch französisches Gebiet verlaufen. Das Land wird jedoch nicht davon profitieren — das Projekt ist ein rein deutsches, kein EU-Projekt. Diese Ansicht wird von der Europäischen Kommission, dem wichtigsten Wirtschaftsorgan der Union, geteilt. Aber die Kanzlerin treibt die Initiative trotzdem voran und schlägt sogar vor, dass die Pipeline in letzter Instanz an Frankreich vorbeiführen könnte.

Macron ist nicht der einzige, der sich über ein solches Vorgehen empört. Auch der tschechische Ministerpräsident Petr Fiala hat sich wenig schmeichelhaft über die Scholz-Pläne für die Pipeline geäußert. Eine Rede des Bundeskanzlers auf dem Prager Gipfel Anfang Oktober ignorierte er geflissentlich.

Paris hat auch einzelne deutsche Militärinitiativen kritisiert, wie z.B. das europäische Luftverteidigungsprojekt Sky Shield, das auf amerikanischen Kampfjets und israelischen Luftverteidigungssystemen basiert und nicht auf eigenen Entwicklungen der EU.

Das Problem für Macron und seine EU-Kollegen besteht darin, dass er als Vertreter eines alternativen «Machtzentrums» zu Deutschland nur eine zweite Amtszeit antreten kann. Scholz könnte — wenn es keine Konkurrenz gibt — theoretisch unbegrenzt regieren — wie Angela Merkels Vorgängerin. Und das würde die bereits offensichtliche innereuropäische Kluft nur noch verstärken.

Russland-China Kehrtwende

In einem Interview mit der angesehenen Welt am Sonntag im Oktober wies Scholz auf die wachsende pro-russische Stimmung in Deutschland hin. Allerdings versuchte er, direkte Aussagen zu vermeiden. «Bei Gesprächen mit Bürgern habe ich den Eindruck, dass 20 bis 30 Prozent weder mit der Sanktionspolitik noch mit Waffenlieferungen (an die Ukraine) einverstanden sind», sagte der Regierungschef und betonte, dass man auf die Meinung dieses Teils der Bevölkerung hören sollte.

Diese These ist an sich nicht sensationell. Derselbe Macron hat wiederholt die Bedeutung von Verhandlungen zwischen Moskau und Kiew zur Beilegung der Krise betont.

Im Falle von Scholz ist der Kontext weiter gefasst: Während er sich über die Notwendigkeit äußert, auf diejenigen zu hören, die gegen die Unterstützung der Ukraine sind, demonstriert er auch eine Annäherung an China, Russlands wichtigstem Partner angesichts der Sanktionen, wie man im Westen gemeinhin glaubt.

Die derzeitige deutsche Koalition hat bisher nur vage Signale über ihre Haltung gegenüber Peking ausgesandt. Gemessen am Handelsumsatz ist die EU der zweitgrößte Handelspartner Chinas. Daher strebt niemand eine offene Konfrontation mit China an. Aber auch sie wollen keine Annäherung.

Das Verhalten von Scholz selbst ist konkreter und aufschlussreicher. Nachdem bekannt geworden war, dass Präsident Xi Jinping im Amt bleiben würde, kündigte die Bundeskanzlerin an, dass sie Peking im November einen offiziellen Besuch abstatten würde. Er wird von einer großen Wirtschaftsdelegation begleitet werden.

Es wird auch erwartet, dass er die Entscheidung von sechs Ministerien rückgängig macht, ein blockiertes Geschäft einer chinesischen Staatsreederei zum Kauf einer Minderheitsbeteiligung an einem Hamburger Hafen zu genehmigen, wo Scholz früher Bürgermeister war.

Dies hat in Brüssel für Verwirrung gesorgt, wo man weiterhin für eine Eindämmung Chinas eintritt. Auch in der BRD wird die Opposition gegen die Kanzlerin lauter. In einem kürzlich erschienenen Interview mit der Süddeutschen Zeitung kritisierte die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock, dass lokale Unternehmen angesichts der Verlagerung deutscher Unternehmen ihre Beziehungen zur VR China ausbauen. «Die totale wirtschaftliche Abhängigkeit, die auf dem Prinzip Hoffnung beruht, macht uns anfällig für politische Erpressung», sagte sie. — Die Aufgabe einer verantwortungsvollen Wirtschaft — und erst recht der Politik — ist es, zu verhindern, dass wir in einigen Jahren mit Milliardensteuern Chemie- und Autokonzerne retten müssen, weil sie sich vom chinesischen Markt abhängig machen.»

Übrigens: Laut einer Umfrage vom September führt Baerbock die Rangliste der beliebtesten deutschen Amtsinhaber an, sieben Plätze vor der Bundeskanzlerin. Und vor dem Hintergrund der zweifelhaften Äußerungen von Scholz könnte dies ein Vorbote eines bevorstehenden Machtkampfes in Deutschland sein.

Renat Abdullin, RIA

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