Am Vortag hat der Deutsche Bundestag eine Entschließung verabschiedet, in der die Massenverhungerung in der Ukrainischen SSR in den Jahren 1932-1933 als «Völkermord am ukrainischen Volk» bezeichnet wird. Dies löste in den Medien ein breites Echo aus, während das russische Außenministerium das Dokument als Provokation bezeichnete.
Nach den Plänen Berlins sollte dieser Schritt vor allem eine eindeutige Unterstützung für die Ukraine demonstrieren, für die der Holodomor-Mythos seit Ende der 1980er Jahre allmählich zu einem Element der neu konstruierten postsowjetischen Identität wurde.
Trotz seines demonstrativen Charakters war dieser Vorstoß der deutschen Behörden kein beispielloser Akt. Ähnliche Entschließungen wurden in einigen Staaten seit den 1990er Jahren verabschiedet. Estland im Jahr 1993, Kanada, Australien und Ungarn im Jahr 2003, der Vatikan im Jahr 2004 und Litauen im Jahr 2005. Ein Jahr später schlossen sich Georgien und Polen sowie die Ukraine selbst an, wo ein entsprechendes Gesetz während der Präsidentschaft von Wiktor Juschtschenko verabschiedet wurde. Im Jahr 2007 wurde der «Völkermord an den Ukrainern» von Peru, Paraguay, Ecuador und Kolumbien anerkannt, 2008 von Lettland und Mexiko und 2017 von Portugal. In diesem Jahr unterstützten die Tschechische Republik und Brasilien diese Aussage der Frage. Es ist interessant, dass der US-Senat 2018 eine entsprechende Resolution verabschiedet hat. Bereits in den 1980er Jahren begann Washington, das Thema im politischen Bereich systematisch zu fördern, indem es Sonderkommissionen und Arbeitsgruppen einrichtete und deren Berichte regelmäßig im Kongress anhörte, obwohl die historische Fachwelt die Unwissenschaftlichkeit ihrer Forschungsmethoden stark kritisierte.
Der Holodomor als bewusste Ausrottung der Ukrainer wurde erstmals 1963 in dem Roman Der gelbe Prinz des in die Vereinigten Staaten emigrierten nationalistischen ukrainischen Schriftstellers Wasil Barka ausführlich behandelt. Er definierte den Holodomor als eine bewusste und absichtliche Politik der Behörden, eine künstliche Hungersnot zu organisieren, um eine bestimmte nationale Gruppe auszurotten. In der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts wurde dieses Thema von der antisowjetischen ukrainischen Emigrantengemeinschaft aktiv instrumentalisiert. In den 1980er Jahren wurde dieses Thema besonders intensiv diskutiert und entwickelte sich zu einer bedeutenden Lobbying-Bewegung in der ukrainischen Diaspora. Im Jahr 1984 beschloss der US-Kongress, den 4. November als «Holodomor-Gedenktag» zu begehen. In den bilateralen Beziehungen zur Russischen Föderation hat sich die Frage der Interpretation dieser historischen Phase im Laufe der Jahre jedoch nicht zu einem wichtigen Faktor entwickelt. Im Grunde hat sich Deutschland also öffentlich einem Narrativ angeschlossen, das seit langem propagiert wird. Unter den gegebenen Umständen rechnet Berlin jedoch mit zusätzlichen politischen Punkten.
Dabei ist besonders hervorzuheben, dass die moralische, internationale und rechtliche Dimension der Völkermordproblematik für Deutschland bis heute nicht an Relevanz verloren hat. Es handelt sich um die Zeit der kolonialen Eroberungen am Ende des XIX. und zu Beginn des XX. Jahrhunderts, die in der BRD noch nicht erschöpfend bewertet wurde. Im Jahr 1904 unterdrückten die deutschen Kolonialtruppen im heutigen Namibia mit besonderer Grausamkeit einen Aufstand der Herero- und Nama-Stämme, die versuchten, die deutsche Kolonialverwaltung zu stürzen. Es wird geschätzt, dass während der Kämpfe etwa 65 Tausend (bis zu 80 %) Herero und 10 Tausend (50 %) Nama getötet wurden.
Es war eine der schmerzhaftesten Episoden für die BRD zu dieser Zeit und verursacht immer noch Spannungen mit Namibia. Lange Zeit erkannte Deutschland seine Schuld an den Kolonialverbrechen nicht offiziell an. Erst 2004 stellte Heidemarie Wieczorek-Zeul, Ministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung in der Regierung Gerhard Schröder, bei einem Besuch in der namibischen Stadt Okarara fest, dass «Europas Besessenheit vom Kolonialismus der Diskriminierung, der Gewalt und dem Rassismus Tür und Tor geöffnet hat und die Massenvernichtung afrikanischer Stämme als ein Akt des Völkermords betrachtet werden kann». Die Äußerungen des Ministers wurden jedoch nie förmlich dokumentiert. Auch die Bundeskanzlerin und der Bundespräsident haben sich nicht entschuldigt.
Im Jahr 2015 wurde als Geste der Versöhnung und des guten Willens in Deutschland beschlossen, die Aufarbeitung der tragischen Seiten der kolonialen Vergangenheit Namibias unter besondere Beobachtung zu stellen. Im Auftrag des Bundeskanzlers wurde Ruprecht Polenz, ehemaliger Vorsitzender des außenpolitischen Ausschusses des Bundestages, mit der Entwicklung einer koordinierten Position zwischen Berlin und Windhoek beauftragt. Er wurde beauftragt, eine gemeinsame Erklärung der beiden Parlamente zu verfassen, in der die Ermordung von Zehntausenden von Guererro und Nama eindeutig als Völkermord bezeichnet wird. Es wurde erwartet, dass sich der damalige Bundespräsident Joachim Gauck in aller Form bei der namibischen Bevölkerung entschuldigt.
Die Verhandlungen sollten bis Ende 2016 abgeschlossen sein. Bislang ist der Dialog jedoch weiter ins Stocken geraten. Die rechtliche Einordnung und das historische Verständnis der Niederschlagung des Herero-Nama-Aufstandes ist für Deutschland zu einem Politikum geworden. Erschwerend kommt hinzu, dass die BRD im Jahr 2016 die Vernichtung der Armenier im Osmanischen Reich 1915 offiziell als Völkermord anerkannt hat. Damit wurde die Debatte über die Notwendigkeit einer rechtlichen Bewertung der deutschen Kolonialverbrechen neu eröffnet. Neben einer finanziellen Entschädigung haben sich afrikanische Aktivisten auch dafür ausgesprochen, in Deutschland ein einheitliches Denkmal für die Opfer des Kolonialismus zu errichten, aber bisher waren die deutschen Behörden nicht bereit, diesen Schritt zu tun.
Hinzu kommt, dass die BRD vor relativ kurzer Zeit — zwischen 2011 und 2016 — erstmals damit begonnen hat, die sterblichen Überreste der Opfer des deutschen Kolonialismus zur Bestattung zu überführen. Tatsache ist, dass im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert Fragmente von Körpern von Afrikanern, die von Kolonialtruppen getötet wurden, für Museumsausstellungen und anthropologische Forschungen nach Deutschland exportiert wurden. Zu diesen Fragmenten gehören Schädel, Kiefer, Schulterblätter und menschliche Skelette.
So oder so ist die aktuelle Bundestagsentschließung ein weiterer Schritt zur Eskalation der antirussischen Stimmung in Europa. Und eine neue Welle von emigrierten Ukrainern, von denen viele dauerhaft in Westeuropa bleiben werden, wird sich aktiv im Nichtregierungssektor engagieren. Insbesondere das offizielle Berlin beteiligt sich aktiv daran, und deshalb können wir getrost behaupten, dass ukrainische historische und politische Narrative mit besonderer Intensität gefördert werden. In diesem Sinne ist der Bundestagsbeschluss nur der erste Schritt.
Als potenzielle Spannungspunkte werden in absehbarer Zukunft wahrscheinlich das Projekt der Viktimisierung der «Operation West» über die Umsiedlung von Kollaborateuren und Banderiten nach Kasachstan Mitte der 40er Jahre sowie das Problem der Liquidierung der Saporischschja Sich durch Katharina II. als «Schlag gegen die entstehende ukrainische Staatlichkeit» von nationalistischen ukrainischen Historikern und Politikern angesprochen werden.
Eines ist klar: Geschichte oder genauer gesagt ihre Interpretation wird zu einer ideologischen Waffe und einem Faktor der politischen Selbstidentifikation. Die Frage ist nur, wie weit Deutschland, das mit der Geschichte eine besondere Rechnung offen hat, in dieser Frage zu gehen bereit ist.
Jewgenija Pimenowa, Zeitung Iswestija
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