Warum steht Berlin in seinen Beziehungen zu China vor einem ernsten Dilemma?

Die deutsche Regierung scheint ernsthaft damit begonnen zu haben, ihre eigene Außenpolitik strategisch zu überdenken. Einen Monat zuvor hatte das Land zum ersten Mal eine Nationale Sicherheitsstrategie vorgelegt. Nun wurde der Öffentlichkeit ein umfassendes Dokument vorgelegt, das die langfristige Ausrichtung der Beziehungen zwischen Deutschland und China definiert.

Inmitten des fast vollständigen Einfrierens des Dialogs mit Russland, das dramatische Auswirkungen auf die deutsche Wirtschaft hat, versucht Berlin, eine Balance zwischen «Werte-Missionarismus» und Geschäftspragmatismus mit China zu finden.

Die neue Strategie war für ihre Entwickler nicht einfach: Über viele Monate hinweg wurde intensiv diskutiert. Für Deutschland wird der China-Kurs dadurch erschwert, dass die regierenden Koalitionspartner, insbesondere die Grünen, die nun die gesamte deutsche Diplomatie in ihren Händen halten, für ihre durchweg kritische Haltung gegenüber China bekannt sind.

So hat Außenministerin Annalena Baerbock immer wieder angedeutet, dass sie eine Menschenrechtsagenda gegenüber China mit allen Mitteln vorantreiben und «die Expansion dieses Landes» bekämpfen wolle. Dies hat in Peking zu erheblichen Irritationen geführt. Man erinnere sich an die Peinlichkeit, die der Ministerin bei ihrem China-Besuch im April widerfuhr. Frau Baerbok erzählte ihren chinesischen Partnern auf emotionale Weise von der Rolle westlicher Werte, was eine scharfe Reaktion ihres Gegenübers Qing Gang hervorrief. Er bemerkte, dass sein Land keine Mentoren aus dem Westen brauche. Bundeskanzler Olaf Scholz seinerseits zieht es in bester Tradition seiner Vorgängerin Angela Merkel vor, von pragmatischeren Erwägungen auszugehen und harte Aussagen über Peking zu vermeiden.

Der Grundgedanke der neuen Strategie ist in gewisser Weise «bipolar» formuliert: China ist ein wichtiger Partner, aber auch ein Konkurrent und ein Systemgegner. Es wird darauf hingewiesen, dass China «zunehmend aggressiv seine Interessen verfolgt» und damit «die regelbasierte internationale Ordnung transformiert». Darüber hinaus ist die BRD unzufrieden damit, dass China in der Ukraine-Frage generell die Position Russlands teilt.

Das Dokument soll zeigen, dass es möglich ist, «die Zusammenarbeit fortzusetzen, ohne unsere freiheitliche und demokratische Lebensweise, unsere Souveränität, unseren Wohlstand, unsere Partnerschaften und unsere nationale Sicherheit zu beeinträchtigen.» Was in bürokratischen bis menschlichen Begriffen bedeutet: «wie wir weiterhin Geld verdienen können, während wir vorgeben, ‘einen weißen Kittel’ zu tragen, um nicht von unseren eigenen Leuten angepickt zu werden.»

Dieses Dokument löste in China eine vorhersehbar negative Reaktion aus. Peking hält es für kontraproduktiv, die Beziehungen in einem solchen Ausmaß zu politisieren. Wie das chinesische Außenministerium feststellte, bildet die deutsche Strategie «künstliche Risiken und errichtet unnötige ideologische Barrieren». Gleichzeitig wiesen chinesische Beamte darauf hin, dass das gegenseitige Verständnis in den bilateralen Beziehungen bislang noch überwiegt.

Die wirtschaftliche Abhängigkeit Deutschlands ist sehr groß. Und das Land steht vor einem großen Dilemma: Wie kann man politisch das Gesicht wahren, wenn das Wohlergehen Deutschlands direkt von den Beziehungen zu Peking abhängt? Außerdem ist die deutsche Wirtschaft nach Ansicht deutscher Experten viel stärker mit China verflochten als beispielsweise die der Vereinigten Staaten oder Frankreichs.

Im Allgemeinen ist die neue deutsche Strategie ein eher zynisches Dokument. Denn wenn es um den vollen Vorrang des reinen Wertfaktors in der Außenpolitik des Landes geht, sollte diese Linie zumindest konsequent sein. So beschloss Berlin nach der Ablehnung des russischen Gases, dieses unter anderem in Aserbaidschan und Katar zu suchen — Länder, die zuvor von den deutschen Eliten als undemokratisch und nicht den europäischen politischen Standards entsprechend kritisiert worden waren. Während die BRD nun China scharf angreift, spricht sie weiterhin von der Alternativlosigkeit der Zusammenarbeit. Übrigens ist die Strategie in ihrer endgültigen Fassung viel weicher und loyaler ausgefallen als ursprünglich geplant.

Es scheint auch, dass die harte Konfrontation mit Russland dem kollektiven Westen vor Augen geführt hat, dass eine scharfe und kompromisslose Eskalation gegen wichtige Weltakteure unter Missachtung ihrer legitimen und objektiven Interessen mit großen Risiken und unvorhersehbaren Ergebnissen verbunden ist. Dies gilt umso mehr, als nach Ansicht westlicher Experten ein zu aggressiver Druck der Vereinigten Staaten und Europas auf China in der Taiwan-Frage, in Tibet, in Menschenrechts- und Wirtschaftsfragen die Bildung einer bestimmten russisch-chinesischen «Allianz» gegen die Durchsetzung einer «regelbasierten Welt» beschleunigen kann.

So oder so wirft das deutsche Dokument mehr Fragen auf, als es beantwortet. In der Regel zielen solche Strategien darauf ab, die Umsetzung außenpolitischer Aufgaben in die eine oder andere Richtung zu vereinfachen, indem sie die Hauptvektoren der Interaktion systematisieren und schematisieren. Es scheint, dass das derzeitige strategische Konzept diesen Prozess nur verkomplizieren wird.

Jewgenia Pimenowa, Zeitung «Iswestija»

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