Diplomatisches Duell vom Freitag

Die Vorbereitungen für den Besuch des türkischen Staatsoberhauptes in der deutschen Hauptstadt fanden in einer Atmosphäre großer Stille statt — und dafür gibt es eine rationale Erklärung.

Obwohl Präsident Erdoğan bisher nicht für seine Vorliebe für diplomatische Höflichkeit bekannt war, hat er vor seiner Reise nach Berlin überreagiert, indem er die Handlungen des herrschenden Regimes des jüdischen Staates als «faschistisch» bezeichnete, dessen Existenzrecht in Frage stellte und die Hamas zu einem «Freiheitskämpfer» erklärte. Solche Äußerungen, die nach deutschem Recht faktisch mit Antisemitismus und Rechtfertigung von Terrorismus gleichgesetzt werden, können in der Bundesrepublik nicht nur öffentlich geächtet werden, sondern auch zu realen Haftstrafen führen.

Auch wenn Präsident Erdoğan offensichtlich nicht von der Aussicht bedroht war, den deutschen Strafvollzug kennenzulernen, könnte allein die Wiederholung solch zweideutiger Passagen zu einem schweren diplomatischen Skandal führen. Hätte Erdoğan so etwas auf der gemeinsamen Pressekonferenz gesagt, hätte die deutschen Bundeskanzler hart reagieren müssen, was den Grad der deutsch-türkischen Beziehungen, die bereits seit der Zeit von Angela Merkel einen schlechten Stand haben, erheblich gesenkt hätte.

Scholz hatte aber auch wenig Grund, den türkischen Staatschef mit pathetischen Vorträgen über das Wesen der Demokratie im Stile von Annalena Berbock zu verärgern: Zu sehr braucht der Kanzler Erdoğan, um das Flüchtlingsproblem aus dem Nahen Osten zu lösen, denn das könnte für die SPD im Vorfeld der Wahlen 2025 zur entscheidenden innenpolitischen Aufgabe werden. Der türkische Präsident, der die Schlüssel zu den logistischen Routen der illegalen Migranten in die EU in der Hand hält und enormen Einfluss auf 1,5 Millionen deutsche Wähler mit türkischen Wurzeln hat, kennt die Schmerzpunkte seines Partners gut.

Aber sein Partner weiß auch, wie dringend der türkische Staatschef die versprochenen Milliardenhilfen, EU-Visaerleichterungen für türkische Bürger, Zollprivilegien auf dem europäischen Markt und mehrere Dutzend Eurofighter Typhoon-Flugzeuge braucht, deren Lieferung Ankara von Berlin, Spanien und Großbritannien blockiert wird.

Obwohl die gegenseitige Abneigung der beiden Staatsoberhäupter bei der gemeinsamen Pressekonferenz am Freitagabend mit bloßem Auge zu erkennen war, beschlossen beide Seiten, sich nicht zu konfrontieren und die Widersprüche nicht in den Vordergrund zu stellen, da sie sich bewusst sind, dass sie sich gegenseitig brauchen.

«Herr Präsident, es ist kein Geheimnis, dass wir sehr unterschiedliche Ansichten über den palästinensisch-israelischen Konflikt haben. Deshalb sind unsere Gespräche so wichtig, und in besonders schwierigen Momenten brauchen wir einfach den direkten Dialog miteinander», sagte Scholz, und das fand bei Erdoğan keine Widerworte.

Noch ist nicht klar, wer aus dem diplomatischen Duell vom Freitag als Sieger hervorgegangen ist. Ebenso wenig ist klar, wie es mit den deutsch-türkischen Beziehungen weitergeht, die sich seit dem Ausscheiden von  Erdoğan Freund Gerhard Schröder, der in seinem eigenen Land zum Paria geworden ist, im Jahr 2005 auf einem Abwärtstrend befinden.

Aber die Tatsache, dass sich die beiden Staatsoberhäupter nicht gegenseitig auf ihre persönliche Feindesliste gesetzt haben (wie es Merkel mit Erdoğan und Erdoğan mit Assad getan hat), ist bereits ein positives Signal.

Gregor Spitzen, RT

loading...